1. Kurzer Einblick in das Thema
Regeln sind aus dem Alltag nicht wegzudenken. Auch für die schulische Ordnung sind Regeln und deren Einhaltung von großer Bedeutung. Um welche Regeln es sich dabei explizit handelt, ist von Schule zu Schule unterschiedlich.
„Für das schulische Handlungsfeld lassen sich […] Regeln von unterschiedlicher Genese, mit unterschiedlichen Explikationsgraden, für unterschiedliche Geltungsbereiche und von unterschiedlicher Verbindlichkeit unterscheiden. Das grundsätzliche Problem, um das es uns hier in ethnographischer Perspektive geht, bezieht sich auf die pragmatische Bedeutung von „Regeln“ für die schulischen Akteure und auf das Verhältnis von „Regeln“ und beobachtbaren Praktiken. Auf welche Art und Weise regeln, bestimmen oder repräsentieren Regeln das Handeln der Teilnehmer? Inwiefern, gelten‘ Regeln, oder inwiefern legen die Teilnehmer Regeln immerzu und immer wieder neu aus?“ (Kalthoff/ Kelle, 2000, S. 692). Die Kontrolle der Regelumsetzung obliegt üblicherweise einer erwachsenen Autoritätsperson im schulischen Kontext, meist einer Lehrkraft. Doch wie erfolgt diese Kontrolle innerhalb einer Peergroup? Dieser Frage widmet sich die vorliegende ethnographische Arbeit.
2. Ausgewählte dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung
2.1. Die Obstpolizei
Die Beobachtung findet in einer ersten Klasse einer Grundschule statt. Im Klassenraum befinden sich alle 25 Schülerinnen und Schüler der Klasse 1v, eine Integrationshilfe, die Klassenlehrerin und ich. Zum Zeitpunkt der Beobachtung nehme ich eine teilnehmende Beobachtungsrolle ein. Ich stehe gemeinsam mit der Klassenlehrerin vor der Tafel und habe meinen Blick und meine Aufmerksamkeit zu den Schülerinnen und Schülern gerichtet. Ich stehe mittig im Raum und habe einen guten Überblick über alle Kinder. Meine beobachtende Rolle unterscheidet sich von meiner Rolle als Praxissemesterstudentin insofern, dass ich für die Kinder nicht wie gewohnt ansprechbar bin und meine Beobachtungen in meinen Notizen festhalte. Die Kinder arbeiten währenddessen in Einzelarbeit an einem Arbeitsauftrag der Lehrerin.
Es herrscht eine ruhige Arbeitsatmosphäre. Die Kinder arbeiten konzentriert an einem Arbeitsblatt, welches zuvor von der Lehrerin als Arbeitsauftrag an die gesamte Klasse gestellt wurde. Die Klassenlehrerin hockt vor einer Schülerin, die sich kurz zuvor gemeldet hat. Beide reden leise miteinander. Vereinzelnd sind kurze, leise Gespräche in der Klasse zu hören. Die Lehrerin steht nach wenigen Minuten aus ihrer hockenden Position auf und dreht sich um. Ihr Blick richtet sich auf die, neben der Tür hängenden Uhr. Danach lässt sie den Blick über die arbeitenden Kinder schweifen. Mit einem leichten Kopfnicken begibt sie sich auf den Weg zu ihrem Pult. Dort angekommen nimmt sie eine Handglocke in ihre rechte Hand und lässt diese durch eine kleine Bewegung im Handgelenk erklingen. Nachdem das Klingeln in der Klasse zu hören war, schauen einige Kinder in Richtung der Lehrerin. Die meisten Schülerinnen und Schüler haben aufgehört zu schreiben, während vereinzelnd scheinbar immer noch Kinder in ihr Arbeitsblatt vertieft sind. Die Lehrerin spricht mit lauter, aber gelassener Stimme: „So, wenn ihr gleich alles aufgeräumt habt, dürft ihr frühstücken.“
Die klaren Anweisungen der Lehrerin werden in dieser Situation von den Schülerinnen und Schülern direkt befolgt. Dies zeigt deutlich, dass die Lehrerin als Autoritätsperson in der Klasse anerkannt wird. Zusätzlich spricht dies dafür, dass es in der Klasse bestimmte, festgelegte Regeln gibt, die besagen, dass die Anforderungen der Lehrerin befolgt werden. Die Anweisungen gelten hier also als Regeln. Die Lehrperson nimmt hier die ihr oft zugesprochene ‚moralische Rolle‘ ein und erinnert mit ihrer kurzen Aussage an bestimmte Klassenregeln. Zinnecker beschreibt dies als „Wächterfunktion“ (vgl. Zinnecker in: Kalthoff/ Kelle, 2000, S.701). Die Person mit Wächterfunktion erinnert an Regeln und benennt bei Bedarf deren Verletzung (vgl. ebd.).
Augenblicklich beginnen viele Schülerinnen und Schüler miteinander zu sprechen und packen ihre Hefte, Stifte und Mäppchen in ihre Schultaschen. Es herrscht eine etwas chaotische Stimmung. Die Lehrerin hat sich in der Zwischenzeit hinter ihr Pult gestellt und beginnt mit leichtnachvornegebeugtem Oberkörper einige Papiere auf einem Stapel zu sammeln.
Mit der Aufforderung des Aufräumens geht die Erlaubnis für die Schülerinnen und Schüler zu frühstücken einher. Das sofortige Stimmengewirr ist ein Anzeichen für die liminale Phase. Liminalität bedeutet hier das Austreten aus der Schülerrolle und die Möglichkeit von einer Unterrichtssituation in eine Peersituation zu wechseln. (Roehl, 2011). Obwohl es hier einen Übergang von Unterricht zur Frühstückspause gibt, ist den Schülerinnen und Schülern bewusst, dass das Einhalten der Regeln weiterhin gilt. In diesem Fall: „Es wird erst aufgeräumt, bevor gefrühstückt wird“.
Ein Austreten aus der Schülerrolle ist daher nicht gänzlich möglich. Hier wiegt die Kraft der Regel größer als das Bedürfnis nach Austausch innerhalb der Peergroup, wie es für einen solchen Übergang typisch ist.
Auf einmal ruft Paul aus der letzten Reihe sehr laut, und das allgemeine Gerede übertönend, in die Klasse: „Obstdienst! Der Obstdienst!“. Einige Kinder pausieren das Aufräumen und schauen zu Paul. Auch Esma dreht sich aus der ersten Reihe mit ihrem Oberkörper nach hinten und schaut in die Richtung, aus der gerufen wurde. Sie atmet tief ein und seufzt leise. Dann erwidert sie ebenfalls mit erhobener und leicht gereizter Stimme: „Jaa, doch. Ich muss doch erst aufräumen. Bist du etwa die Obstpolizei?“ Sie dreht ihren Oberkörper wieder zurück, sodass sie gerade vori hrem Tisch sitzt und räumt weiter alle Sachen von ihrem Tisch in die Schultasche. Als sie alles weggepackt hat steht sie von ihrem Stuhl auf. Sie geht in Richtung Klassenzimmertür. Als sie diese erreicht hat dreht Esma ihren Kopf und schaut in die Richtung von Paul. Mit lauter Stimme sagt sie: „Paul, ich gehe jetzt das Obst holen!“ Ruckartig dreht sie sich um, öffnet die Tür und tritt aus dem Klassenzimmer hinaus.
Auch in diesem Abschnitt wird deutlich, dass das Erinnern an eine Regel und deren Einhaltung für die schulische Ordnung von Bedeutung ist. Anders, als jedoch meist angenommen, wird hier die Wächterfunktion nicht von einer erwachsenen Autoritätsperson eingenommen. Stattdessen findet hier die Kontrolle innerhalb der Peergroup statt. Durch Pauls Ausrufe wird deutlich, dass es innerhalb der Klasse rollenbasierte Regeln gibt. Die Regel besagt, dass es innerhalb der Klasse Schülerinnen und Schüler gibt, die bestimmte Aufgaben ausführen. Zusätzlich scheint es auch eine gewisse „Zeitmanagementregel“ zu geben, so ist es Paul sichtlich wichtig, dass der Obstdienst seiner Tätigkeit sofort nachkommt. Esma nimmt die Regelerinnerung von Paul zwar wahr, scheint diesen aber nicht direkt als Autoritätsperson wahrzunehmen. Dies wird durch ihre eher abhaltende Haltung und Reaktion erkennbar. Auch der Begriff
„Obstpolizei“ suggeriert, dass sie Paul als Kontrolleur der Regel sieht. Gleichzeitig hinterfragt sie die Notwendigkeit in dieser Situation. Dennoch weist sie darauf hin, dass sie sich der Regel bewusst ist, indem sie „ja doch“ antwortet.
Der Hinweis, dass Esma zunächst noch aufräumen muss, lässt den Schluss zu, dass es bei den Regeln eine Hierarchie gibt. Hier könnte es zum einen der zeitlichen Abfolge geschuldet sein, dass Esma die Durchführung der Regeln nach deren Auftreten befolgt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Hierarchie der Regeln mit der Hierarchie der Person gleichgesetzt wird, die an diese Regel erinnert. In diesem Fall setzt Esma die Aufräumregel der Lehrerin vor den Obstdienst, der von Paul ausgerufen wird. In beiden Fällen gibt es eine Abfolge der Regeln, die je nach Individuum festgelegt wird.
3. Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die beobachtete Schulklasse von einem gut etablierten Regelnetzwerk geprägt ist. Dies sorgt dafür, dass der Schul- und Unterrichtsalltag strukturiert wird. Die Situation zeigt deutlich, dass es für die schulische Ordnung diverse Regeln gibt. An diese wird oft kurz und verbal erinnert, da viele solcher Regeln nicht schriftlich festgehalten werden. Meist geschieht diese Erinnerung fast schon präventiv von der Lehrkraft.3 Die Lehrerin fungiert als zentrale Autoritätsperson, die klare Anweisungen ausspricht und für die Einhaltung der Regeln zuständig ist.
„Die Regelerinnerungen sind diejenigen Augenblicke des schulischen Alltags, in denen das, was das Unterrichtsspiel an Ordnungsvorstellungen immer schon voraussetzt, formuliert wird. Lehrpersonen erinnern aber nicht allein an Regeln, sondern setzen eine definierte Ordnung durch. Das heißt auch, daß[!] die Verfügbarkeit der Regeln bei der Lehrperson liegt und Schüler nur strategisch mit ihnen umgehen können“ (Kalthoff/ Kelle, 2000, S.701).
Auch im obigen Beispiel wird durch die ‚Aufräumregel‘ deutlich, dass die Autorität bei der Lehrkraft liegt. Die Schülerinnen und Schüler befolgen die Regel sofort, ohne sich zu widersetzen oder zu diskutieren.
Anders jedoch ist dies im Fall von Esma und Paul. Dort herrscht eine ähnliche Situation der Regelerinnerung. In der Beobachtung wird deutlich, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur passive Regelbefolger sind. Sie beteiligen sich aktiv an der Auslegung und Einhaltung bestimmter Regeln. Dies zeigt sich deutlich in der Auslegung rollenbasierter Regeln. Den Schülerinnen und Schülern sind das Anerkennen und Einhalten von Regeln wichtig. Daher herrscht ebenfalls innerhalb der Peergroup das Bedürfnis sich gegenseitig an schulinterne Regeln zu erinnern. Jedoch nimmt Esma die Regelerinnerung nicht wortlos entgegen, sondern teilt ihre Interpretation mit dem Umgang der Regeln mit. Kalthoff und Kelle beschreiben dies als Reinterpretation und sagen, dies sei Bestandteil der Schulpraxis (vgl. Kalthoff/ Kelle, 2000, S:701).
Im Laufe meines Praxissemesters, ist mir dies in vielen weiteren Situationen aufgefallen. Die Erinnerung an bestimmte Regeln (meist Verhaltens- oder Klassenregeln) fand statt, ohne dass signifikante Störungen erkennbar waren.
Die obigen Einblicke zeigen deutlich, dass sich die Dynamik von Regeln im schulischen Kontext auf verschiedenste Weisen äußern. Sie werden nicht nur von Lehrpersonen eingefordert, sondern auch aktiv von Schülerinnen und Schülern. Der Umgang mit einer Regelerinnerung scheint allerdings im Kontext unterschiedlich wahrgenommen zu werden. So ist die Person, die die Regelerinnerung ausspricht von Bedeutung bei dem Umgang mit dieser von den Akteuren. Die Bedeutung von Regeln und Regelerinnerung und deren Verhältnis im peerkulturellen, schulischen Kontext bietet facettenreiche Antworten.
Aus ethnographischer Perspektive eröffnen sich so verschiedene Möglichkeiten, solche komplexen Regelstrukturen weiter zu beobachten. So kann sich ein tiefergehendes Verständnis auf deren Auswirken zwischen schulischem Handeln und Peergroup ergeben. Regeln als solches sind kein statischer Begriff, sondern werden von Akteurinnen und Akteuren gelebt und interpretiert.
4. Literatur
Bennewitz, H.; Breidenstein, G.; Meier, M. (2015), Zum Verhältnis von Peerkultur und Schulkultur, S.285-305, in: Böhme, j., et. al. (Hrsg.), Schulkultur, Theoriebildung im Dis- kurs, Springer Fachmedien Wiesbaden
Breidenstein, G. (2006), Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schü- lerjob, 1. Auflag, VS Verlag für Sozialwissenschaften, GWV Fachverlage GmbH, Wies- baden
Göhlich, M.; Wagner-Willi, M., (2001), Rituelle Übergänge im Schulalltag – Zwischen Peergroup und Unterrichtsgemeinschaft, S. 118-204, in: Wulf, C., et. al. (2001), Das Soziale als Ritual, Zur performativen Bildung von Gemeinschaften
Kalthoff, H.; Kelle, H. (2000), Pragmatik schulischer Ordnung. Zur Bedeutung von „Re- geln“ im Schulalltag, S.691-710, in: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000) 5
Roehl, M. (2011), Liminalität, abgerufen am: 05.09.2023, URL: https://userwikis.fu-ber- lin.de/pages/viewpage.action?pageId=23167031
Unterweger, U. (2019), Der Umgang mit Regeln in zwei sozioökonomischen kontrastie- renden Schulklassen (Regeln im Schulalltag II), in: Sieber Egger, A., et al. (Hrsg.), Kindheit(en) in formalen, nonformalen und informellen Bildungskontexten, Kinder, Kind- heiten und Kindheitsforschung 20, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Wagner-Willi, M. (2018), Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbüh- nen, S.58-63, in: Bröhlmann, J.; Conversano, D. (hrsg.), Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt, Verlag LCH Zürich