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Frequently Asked Questions

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Beobachten & Beobachtungen aufschreiben

Allein das Erkennen dieser großen Herausforderung für teilnehmende Beobachter:innen ist bereits hilfreich, weil so zur Reflektion der eigenen Beobachtungstätigkeit angeregt wird. Worauf fällt meine Aufmerksamkeit? Was drängt sich in den Vordergrund? Was bleibt eher unauffällig? Was verrät mir die eigene (unreflektierte) Fokussierung der teilnehmenden Beobachtung über die Situation? Je nach Fokussierung fallen verschiedene Dinge ins Auge. Warum nicht das einzige Kind fokussieren, das nicht wie alle anderen umherrennt – es ist schließlich auch Teil der Situation, oder?

Es dürfte wohl viele und verschiedene Antworten auf diese Frage geben. Eine gibt Meier (2021, 2f.): „Ein Protokoll muss meines Erachtens so gut geschrieben sein, dass es die Leser*in sprichwörtlich in die beobachtete Situation hineinversetzt, sodass die beschriebenen Szenen vor ihrem inneren Auge lebendig werden. Neben diesen durchaus literarischen Ansprüchen an ein Beobachtungsprotokoll müssen die Beschreibungen zugleich so detailliert angefertigt sein, dass das Handeln der Akteure, also die verbalen und non-verbalen Interaktionen und ihre Interferenzen, präzise abgebildet werden, sodass sie einer soziologischen Analyse zugänglich sind.“ Jedoch beantwortet auch ein vermeintlich schlechtes Protokoll Fragen – nur vielleicht jedoch nicht die gestellten.

Statt nach guten bzw. schlechten Beobachtungsprotokollen sollte eher in Anlehnung an Geertz (1983) nach dichten bzw. dünnen Beschreibungen gefragt werden. Lange und Wiesemann (2012, 272) schreiben hierzu: „Das detaillierte, hochgradig selektive und subjektive Beschreiben ist in diesem Sinne ein Qualitätsmerkmal gelungener Aufzeichnungen. Gilbert Ryle nannte derartige Produkte dichte Beschreibungen, Clifford Geertz (1983) griff die Betitelung und die Überlegungen zum Schreiben weiterentwickelnd auf. Bei dieser Art des Schreibens geht es um die „Mobilisierung von Erfahrungen” (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 30), der Leser soll Partizipation fühlen und greifen können. ,,Beobachtungen werden nicht nur als Erlebnisakkumulationen sozialwissenschaftlich relevant, sondern als Protokolle, die weiterverarbeitet werden, und als dichte Beschreibungen, die  ‚weitererleben’ lassen können” (Amann/Hirschauer 1997, S. 30, Herv. i. Orig.). Bloße Beschreibungen von Beobachtungen oder Ereignissen sind in diesem Sinne noch nicht als ethnografische Daten zu verstehen, zu diesen werden sie erst durch eingebettete Sinnstiftungen des Autors (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 31). Gilbert Ryle (1971; zitiert nach Geertz 1983, S. 10ff.) führt das Beispiel an, dass aus der (dünnen) Beschreibung eines schnellen Lidschlags einer Person noch nicht ersichtlich wird, ob es sich um ein ungewolltes biologisches Zucken oder um ein beabsichtigtes kulturelles Zeichen handelt. Für sich betrachtet sind die Bewegungsvorgänge gleich.“

  • Lesetipp: Meier, Michael (2021): Ethnographische (Beobachtungs-)Protokolle schreiben. Eine Anleitung und zwölf Übungen. Flensburg. Online verfügbar unter https://www.researchgate.net/publication/354339095_Ethnographische_Beobachtungs-Protokolle_schreiben_Eine_Anleitung_und_zwolf_Ubungen, zuletzt geprüft am 06.09.2021.
  • Videotipp aus ‘Analyse’: Ein gutes Protokoll

Wörtern wie „trotzdem“ oder „noch“ in einem Beobachtungsprotokoll („Die Schüler:innen haben noch ihre Brotdosen auf dem Tisch“):

Beobachtungsprotokolle, also die (schriftlichen) Beschreibungen von (sozialen) Situationen, sind Konstruktionen. Das heißt, ein Protokoll ist nicht eine bloße Abschrift oder eine Kopie eines vermeintlichen Originals, sondern vielmehr eine Übersetzungsleistung der Ethnograf:innen (vgl. Hirschauer 2001). Die „sprachliche Vergegenwärtigung eines Ereignisses ex post [ist] eine Deutung, also dessen interpretative Neuschaffung“ (Hirschauer 2001, 433 mit Bezug zu Bergmann 1985, 305). In diesen interpretativen Übersetzungsprozess schreiben sich unweigerlich (!) subjektive Deutungen der Ethnograf:innen ein. Unter dieser Perspektive sind „trotzdem“ oder „noch“ keine „Fehler“ in einem Beobachtungsprotokoll, sondern höchst aufschlussreich. Der Ethnograf oder die Ethnografin hat die geltende Ordnung verinnerlicht und zeigt sich irritiert über die Dinge, die „noch“ nicht so sind, wie sie (vermeintlich) sein sollten. Eine solche Beschreibung läuft jedoch Gefahr der bloßen Reproduktion sozialer Ordnung, weil das Handeln der Teilnehmer:innen aus dem Blick gerät.

  • Tipp: In der Aufzeichnungen der Interpretationswerkstätten (Analyse) wird das Phänomen der Autor:innenschaft immer wieder diskutiert.
  • Lesetipp: Hirschauer, Stefan (2001): Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zur Methodologie der Beschreibung. In: Zeitschrift für Soziologie 30 (6), S. 429–451.

Gegenfrage: „Können wir nicht in der Art und Weise, wie wir als Forschende in bestimmten Handlungssituationen wahrgenommen und einbezogen werden, gerade etwas über die Eigenheiten unseres Forschungsfeldes lernen? Was zeigt uns die Beobachtung der Beobachter, d. h. das Wie unseres Einbezogenwerdens in den laufenden Handlungsvollzug über den schulischen Alltag?“ (Wiesemann 2010, 143).

  • Tipp für das Praxissemester: Unabhängig davon, ob wir durch die „Störung“ etwas über das Forschungsfeld (und über die Praxis der Ethnografie) lernen, ist es auch ratsam, ruhige Momente des teilnehmenden Beobachtens zu arrangieren, in denen man (weitestgehend) vom Handlungszwang befreit ist. Sprechen Sie ggf. mit den Schüler:innen und der Lehrkraft und weisen Sie diese (erneut) auf Ihre universitäre Aufgabe hin.
  • Lesetipp: Wiesemann, Jutta (2010): Ethnographie (machen) mit Kindern in der Schule: Die Beobachtung der Beobachter. In: Friederike Heinzel, Peter Cloos, Stefan Köngeter und Werner Thole (Hg.): “Auf unsicherem Terrain”. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S. 143–151.

 

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Analysieren

Eine große, wenn nicht gar die größte, Herausforderung ethnografischer Forschung ist das Befremden des nur allzu Vertrauten. Wahrscheinlich sind Sie mit dem Feld so vertraut (geworden) und bewegen sich so souverän in diesem, dass Sie daher selbst die naheliegendsten Dinge nicht mehr sehen können. Dieses Problem wird in der ethnografischen Forschung unter dem Stichwort „going native“ seit langem intensiv diskutiert. Ethnografische Analysen sind weniger an strikt anzuwendenden Analyseverfahren orientiert. Ethnografisches Schreiben und Analysieren ist vielmehr auch ein kreativer Prozess: „ […] it is embodied in the ethnographer´s ideas and hunches“ (Hammersley & Atkinson 2019, 167)

  • Tipp 1: Arbeiten Sie nicht alleine. In der Diskussion und dem Austausch mit anderen (z. B. in einer Interpretationsgruppe) entstehen häufig hilfreiche Ideen (oder Begriffe, Vergleiche, Metaphern) für die Arbeit mit dem Datenmaterial.
  • Tipp 2: ‚Spielen‘ Sie mit dem Material. Verändern Sie den Kontext oder vertauschen Sie die Rollen der Akteur:innen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt und manchmal entstehen auch aus vermeintlich abwegigen Veränderungen oder Vergleichen interessante Ansätze zur Analyse.
  • Tipp 3: Eine Situation beschreiben und analysieren (Achtung: auch schon die Beschreibung ist interpretativ), mit der man nicht bereits vertraut ist.
  • Tipp 4: Lesen Sie andere Ethnografien (s. Literatur)

 

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Eine ethnografische Studie verfassen

Inhaltsverzeichnis und Überschriften sind für die Leser:innen der erste Hinweis auf die Inhalte. Verwenden sie daher aussagekräftige Überschriften, die spezifisch auf den Inhalt ihrer Kapitel hinweisen. “Beobachtungsprotokoll” oder “Analytische Dimensionierung” sind zu allgemein. Vorschläge (!): “Beobachtungsprotokoll: “Ich will, ich will, ich will”” oder “(Dringliches) Melden als soziale Praxis”.

Verweisen Sie am besten nicht auf Stellen im Beobachtungsprotokoll im Stil von “(s. Z. 3-5)”, weil das des Lesefluss ungemein stört. Sie können (kurze! oder gekürzte!) Kernpassagen (oder auch nur Wörter) des Protokolls in den Fließtext einarbeiten, indem Sie diese beispielsweise kursiv setzen. Zum Beispiel: “Peters hektisches Melden inszeniert …während Emilie laut “Ich will, ich will, ich will” ruft…”. Alternativ können auch Einfügungen in Klammern sinnvoll sein. Zum Beispiel: “Peters bewirbt sich um das Rederecht (hektisches Melden) ebenso wie Emilie mit ihrem lauten Rufen (“Ich will, ich will, ich will”).

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Ethnografische Perspektive auf Schule und Unterricht

Auch der Unterricht hat eine Hinterbühne. Hierzu zählt das, was nicht zum Unterricht gehört. Zum Beispiel Zettelchen schreiben (s. Bennewitz „Zeit zu zetteln“) während zeitgleich Unterricht gemacht wird – auch von den Zettelschreibenden.

Das Soziale ist kein Dschungel (nur, weil der Pädagoge es nicht versteht) – Auch Pause hat eine soziale Ordnung. Diese gilt es zu beschreiben.

Man kann die Wahrnehmung der Autorität der Lehrerin durch die Akteur:innen nicht beschreiben, da Wahrnehmungen nicht beobachtet werden können („Peter nimmt wahr, dass…“). Autorität wird vielmehr erst durch die Akteur:innen hergestellt – sie ist nicht einfach da. Diese Herstellung wiederrum kann beschrieben werden.

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Sonstige Fragen

Zinnecker benutzte bereits 1995 die Formulierung des befremdenden Blicks für die Beschreibung einer für Pädagogen adäquaten erziehungswissenschaftlichen Grundhaltung: ‘Es ist ein befremdender Blick, der auf die praxeologischen Selbstverständlichkeiten des Handelns und Wissens von Pädagogen und Kindern trifft und diese reflexiv verfügbar macht.’ (Zinnecker 1995, S.21) Konträr zu der Vorstellung, die schulische Praxis sei uns nur allzu vertraut, setzt eine solche befremdende Entdeckungsperspektive darauf, aufgrund eines methodisch gesteuerten Bruchs mit der Vertrautheit neu über die elementaren Phänomene nachdenken zu können. Oder um es anders zu formulieren: Um Schule wirklich neu denken zu können, muss man sie immer wieder mit neuen Augen sehen können.“ (Wiesemann 2011, S. 167)

  • Lesetipp: Wiesemann, Jutta (2011): Ethnographische Forschung im Kontext von Schule. In: Heinz Moser und Hans-Ulrich Grunder (Hg.): Forschung in der Lehrerbildung. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren, S. 167–185.

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Zinnecker benutzte bereits 1995 die Formulierung des befremdenden Blicks für die Beschreibung einer für Pädagogen adäquaten erziehungswissenschaftlichen Grundhaltung: ‘Es ist ein befremdender Blick, der auf die praxeologischen Selbstverständlichkeiten des Handelns und Wissens von Pädagogen und Kindern trifft und diese reflexiv verfügbar macht.’ (Zinnecker 1995, S.21) Konträr zu der Vorstellung, die schulische Praxis sei uns nur allzu vertraut, setzt eine solche befremdende Entdeckungsperspektive darauf, aufgrund eines methodisch gesteuerten Bruchs mit der Vertrautheit neu über die elementaren Phänomene nachdenken zu können. Oder um es anders zu formulieren: Um Schule wirklich neu denken zu können, muss man sie immer wieder mit neuen Augen sehen können.“ (Wiesemann 2011, S. 167)

  • Lesetipp: Wiesemann, Jutta (2011): Ethnographische Forschung im Kontext von Schule. In: Heinz Moser und Hans-Ulrich Grunder (Hg.): Forschung in der Lehrerbildung. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren, S. 167–185.

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