1. Einleitung
Die vorliegende ethnographische Mikrostudie richtet den Blick auf die Schüler*innen als Akteur*innen im Unterrichtsgeschehen, konkret auf Fragestellung „Wie melden sich Schüler*innen als alltägliche Praktik im Unterricht?“.
Das Melden stellt eine bedeutsame Alltagsmethode innerhalb des Unterrichts dar (vgl. Wiesemann, 2011, S. 172). Es dient dazu, die unterrichtliche Kommunikation zu organisieren und zu strukturieren. Neben der Etablierung und Aufrechterhaltung einer schulischen Ordnung und der Herstellung von Unterricht, geht es dabei ebenso um die Verhandlung von schulischem Wissen (vgl. Budde, 2011, S. 130 f.). Darüber hinaus liegt die Bedeutung des Meldens und des demonstrativen Zeigens, „dass man etwas weiß“, in der Darstellung der Schüler*innenrolle (vgl. Wiesemann, 2011, S. 173). Die Ausübung der alltäglichen schulischen Praktik des Meldens zeigt sich in einer spezifischen körperlichen Ausrichtung: das Heben des Armes mit ausgestrecktem Zeigefinger. Die Schüler*innen bewerben sich mit einer Meldung um das offizielle Rederecht. Das Recht der Turn-Zuteilung obliegt der Lehrperson (vgl. Breidenstein, 2006, S. 98; Kalthoff, 2021, S. 90). Die spezifische Verteilung des Rederechts sowie die Organisation von Unterricht und die Ausübung der Schüler*innenrolle führen zu einem Spannungsverhältnis und folglich einem Konkurrenzkampf um die die Redeanteile und um die Aufmerksamkeit der Lehrperson. Infolgedessen wird die Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens innerhalb einer erheblichen Variationsbreite und Bedeutungsvielfalt realisiert (vgl. Budde, 2011, S. 130 f.; 143; Breidenstein, 2006, S: 98 f.).
Das Ziel der vorliegenden Mikrostudie besteht darin, die Komplexität der alltäglichen unterrichtlichen Praktik des Meldens zu erforschen und zu analysieren. Dabei sollen Einblicke in die schulischen Interaktionen, die Dynamiken und Mechanismen der Beteiligung und der unterrichtlichen Kommunikation sowie die soziale Ordnung im Klassenzimmer gewonnen werden.
Im weiteren Verlauf wird zunächst die methodische Vorgehensweise der Mikrostudie erläutert. Daran anschließend erfolgt eine Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin und als Praxissemesterstudentin im Feld, sowie eine Beschreibung der Reaktionen des „Feldes“. Anschließend wird die Lernkultur der beobachteten Klasse beschrieben. Danach werden zwei dichte Beschreibungen schulischer Situationen präsentiert, welche die Grundlage für eine darauf folgende analytische Dimensionierung bilden. Das abschließende Fazit impliziert eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie einen Ausblick auf mögliche weitere Forschungsfelder.
2. Methodisches Vorgehen
Zur Untersuchung der alltäglichen Praktiken des Meldens im schulischen Kontext folgt die vorliegende Studie einem ethnographischen Ansatz. Der empirische Hintergrund stützt sich auf teilnehmende Beobachtungen, welche im Rahmen des Praxissemesters angestellt wurden. Die Ethnographie gilt als eine sozialwissenschaftliche Forschungsstrategie und kann als „Denk- und Darstellungsstil“ verstanden werden (vgl. Kalthoff, 2011, S. 149). Die ethnographische Forschung im Kontext Schule richtet den Blick auf das alltägliche Tun und das scheinbar Vertraute innerhalb der schulischen Praxis hinsichtlich seiner Ordnungen, Rituale und Regeln (vgl. Wiesemann, 2011, S. 168). Die Praktiken des Feldes werden dabei erst durch die aktive Teilnahme der Forscher*in am Alltag der Akteur*innen empirisch zugänglich. Die zentrale Methode der Ethnographie ist die teilnehmende Beobachtung.
Teilnehmende Beobachtung bedeutet die Produktion von Wissen aus eigener und erster Hand. Es geht um den zeitgleichen, aufmerksamen und mit Aufzeichnungen unterstützten Mitvollzug einer, eigene kulturelle Ordnungen konstituierenden, lokalen Praxis und ihre distanzierende Rekonstruktion… (Amann & Hirschauer, 1997, S. 21).
Es geht vor allem darum, Interaktionsprozesse zwischen den Akteur*innen im Feld zu erforschen und dabei die Mikrostrukturen eines sozialen Geschehens mit Blick auf die Herstellung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung zu betrachten (vgl. Wiesemann 2011, S. 167; S.180). Der Kern einer ethnographischen Arbeit liegt in der Fragestellung „Was tun Schülerinnen und Schüler und Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie ‛Unterricht machen’ und wie tun sie es als gemeinsame Praxis?“ (Wiesemann, 2011, S. 170). Dafür ist eine detailgetreue, verallgemeinerungsfähige und selektive Beobachtung und Beschreibung des sozialen Geschehens erforderlich. Im Rahmen einer analytischen Dimensionierung gilt es eine methodisch-reflektierte Fremdheit gegenüber der beobachteten Praktiken im schulischen Unterricht einzunehmen. Diese methodologische Grundlage ermöglicht es, in einem alltäglichen und scheinbar vertrauten Unterrichtsgeschehen Neues zu entdecken (vgl. Breidenstein, 2012, S. 30; Amann & Hirschauer, 1997, S. 12). Um neue Perspektiven auf schulische Praktiken eröffnen und die Forschungsfrage der vorliegenden Mikrostudie beantworten zu können, ist ein langfristiger Aufenthalt im Feld und eine kontinuierliche Beobachtung der Akteur*innen notwendig. Infolge der Erstellung von Feldnotizen, wird eine erste Versprachlichung von sozialen Phänomenen vorgenommen und die Möglichkeit einer erneuten Fokussierung und Befremdung durch die Erstellung dichter Beschreibungen eröffnet. Die dichten Beschreibungen werden als Grundlage für eine reflexiv-analytische Durchdringung der Beobachtungen im Rahmen einer analytischen Dimensionierung genutzt (vgl. Breidenstein, 2012, S. 31 ff.; S. 42).
3. Reflexion
Im Folgenden wird eine Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin im Feld angestellt. Darüber hinaus werden die Reaktionen des Feldes auf meine Anwesenheit als Forscherin und Praxissemesterstudentin genauer beleuchtet. Zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen war ich bereits über neun Woche ein fester Teil der Klassengemeinschaft. Ich habe mir anfänglich bewusst Zeit genommen, die Klasse zunächst einmal kennenzulernen und Vertrauen zu den Schüler*innen aufzubauen. Die Schüler*innen haben mich während dieser Zeit ausschließlich in meiner Rolle als Praxissemesterstudentin wahrgenommen. Diese Rolle zeichnete sich dadurch aus, dass ich zu Unterrichtsbeginn vor der Tafel im vorderen Bereich des Klassenraumes stand. Ich habe die Kinder gemeinsam mit meiner Mentorin begrüßt und morgendliche Rituale durchgeführt. Im Verlauf des Tages habe ich meine Mentorin in diversen Unterrichtssituationen unterstützt, indem ich beispielsweise Arbeitsblätter verteilt oder einzelne Schüler*innen sowie Kleingruppen individuell gefördert habe. Darüber hinaus war der Tag von einem regen Austausch mit den Schüler*innen geprägt, sowie dem Verfügbarstehen bei Fragen oder Problemen. Während der Arbeitsphasen laufe ich meist durch den Klassenraum, ansonsten stehe ich neben der Lehrperson seitlich neben der Tafel. Ich habe nach kurzer Zeit eigene Unterrichtsvorhaben in den Fächern Deutsch und Sachunterricht geplant und durchgeführt, sodass die Schüler*innen mich als Lehrerin akzeptiert und anerkannt haben. Meine Rolle als Forscherin im Feld kontrastiert signifikant mit meiner Rolle als Praxissemesterstudentin. Es ist mir anfänglich schwer gefallen, mich aus dem aktiven Unterrichtsgeschehen zurückzuziehen und mich auf die Beobachtungen zu konzentrieren. Ich habe mich anfänglich dafür entschieden, während meinen Beobachtungen am Lehrerpult zu sitzen. Das Lehrerpult ist im vorderen, seitlichen Bereich des Klassenzimmers positioniert. Der Standort hat es ermöglicht, alle Akteur*innen sowie deren Gestik und Mimik überblicken und beobachten zu können. Im Laufe des Forschungsprozesses habe ich Beobachtungen in unterschiedlichen Unterrichtssituationen angestellt, um vielfältige Einblicke in die Interkationen, Dynamiken und Beteiligungen im Unterricht zu erlangen. Ich habe neben Beobachtungen im Frontalunterricht ebenfalls Beobachtungen im Sitzkreis angestellt. Dafür habe ich meinen Beobachtungsstandort gewechselt und einen Platz am Rande des Bänkekreises eingenommen. Von meiner neuen Position aus war es ebenso möglich, alle Akteur*innen gut zu überblicken. Für die Schüler*innen war meine neue Rolle zunächst eher befremdlich. Die Klasse war es gewohnt, dass ich sowohl als leitende Lehrkraft wie auch als zusätzliche Unterstützung aktiv am Unterricht teilnehme. Die Schüler*innen fragten mich des Öfteren, was ich auf dem Block aufschreibe, warum ich das mache und haben anfangs häufig in Arbeitsphasen meine Hilfe angefordert. Ich habe den Kindern erklärt, dass ich eine gute Lehrerin werden möchte und mir deshalb den Unterricht genauer anschaue und Notizen aufschreibe. Meine Erklärung wurde nicht weiter in Frage gestellt, und im Verlauf meiner Beobachtungen wurde meine Präsenz als Forscherin im Feld akzeptiert. Die Kinder haben sich während meiner Beobachtungen auf den Unterricht und die Lehrerin fokussiert. Dadurch fiel es mir nach kurzer Zeit leichter, meine Rolle als teilnehmende Beobachterin im Feld auszuüben. Da ich zum Zeitpunkt des Wechsels meiner Beobachtungsposition bereits einige Beobachtungen durchgeführt hatte, kam es dadurch zu keinerlei Beeinflussung oder Störung der unterrichtlichen Interaktionen.
4. Beschreibung der Lernkultur
Ich habe mein Praxissemester an einer zweizügigen Grundschule in Raum Falkenroth durchgeführt. Den Großteil meiner Zeit habe ich in Klasse 2b verbracht, in welcher ich ebenso meine ethnographischen Beobachtungen durchgeführt habe. Die 27-köpfige Klasse besteht aus 13 Schülern und 14 Schülerinnen im Alter von 7 bzw. 9 Jahren sowie einer weiblichen Lehrperson. Nach Angabe der Lehrerin haben elf Schüler*innen einen Migrationshintergrund, zwei von ihnen mit erheblichen sprachlichen Problemen. Beide Kinder werden im Rahmen einer zusätzlichen Einzelförderstunde von einer Sonderpädagogin individuell gefördert. Bei einem Schüler läuft aktuell ein Verfahren zur Überprüfung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs. Zwei Kinder wiederholen die 2. Klasse. Ein Kind hat eine noch nicht diagnostizierte, tiefgreifende Entwicklungsstörung. Es herrscht eine hohe Heterogenität in der Lerngruppe. Trotz dessen arbeitet dieses sehr ruhig und fleißig. Die Klasse wird vorrangig von der Klassenlehrerin unterrichtet. An der Grundschule arbeiten zwei Vertretungslehrer*innen, welche die Lehrerin in einigen Stunden in der Woche zusätzlich unterstützen und Kleingruppenförderungen im Bereich Deutsch und Mathematik durchführen.
Der Alltag in der Klasse ist geprägt von einer ritualisierten und organisierten Unterrichtsstruktur. Morgendliche Rituale, sowie strukturierte Übergänge zwischen dem Anfang bzw. Ende der Stunde und der Arbeitsphase sind alltäglich. Immer wieder finden Unterrichtssituationen und -gespräche im Sitzkreis statt, in welchen neue Themen eingeführt oder Arbeitsaufträge und -ergebnisse besprochen werden. In allen Phasen des Schulalltags spielt das Melden eine wichtige Rolle. Die Redeanteile der Kinder werden von der Lehrerin verteilt, indem sie die Kinder an die Reihe nimmt. Dabei achtet sie darauf, dass die Kinder leise auf ihren Plätzen sitzen. Sie arbeitet sowohl zu Beginn einer Stunde als auch im Unterrichtsverlauf mit dem Leisezeichen, in Form von einem Handzeichen. In einigen unterrichtlichen Situationen wird die Meldekette genutzt, bei welchem die Kinder nach ihrem Beitrag selbst ein weiteres Kind dran nehmen dürfen. Der Klassenraum ist sehr groß und aufgrund einer großen Fensterfront sehr hell. Die Tische sind in einer U-Form angeordnet. Innerhalb der U-Form befinden sich zusätzliche Tischreihen. Alle Tische sind so ausgerichtet, dass die Schüler*innen frontal oder seitlich zur Tafel schauen können. Im hinteren Bereich befindet sich ein Sitzkreis mit fünf Bänken und einem zusätzlichen Whiteboard. Das Lehrerpult steht im vorderen Bereich der Klasse rechts von der Tafel. Die Lehrerin hält sich hier sehr selten auf. Sie läuft in den Arbeitsphasen meist durch die Klasse. Außerdem stehen an den Wänden einige Regale und Schränke für Klassen- und Arbeitsmaterialien sowie die Bücher aller Kinder.
5. Ausgewählte Beschreibungen schulischer Situationen: „Wie melden sich Schüler*innen im Unterricht?“
5.1 Beobachtung 1: „Bitte, Bitte, ich weiß es“ – Melden als soziale Praxis
5.1.1 Die Situation
Es ist die erste Unterrichtsstunde an diesem Tag. Die Kinder haben eine Doppelstunde Mathematik. Sie findet bei der Klassenlehrerin statt. Es sind 25 Kinder anwesend. Ein Kind befindet sich mit der Sonderpädagogin in einer Einzelfördermaßnahme außerhalb des Klassenraumes. Ein weiteres Kind fehlt krankheitsbedingt. Die Lehrperson und die Kinder sitzen bereits auf ihren Plätzen im Bänkekreis. Während der Unterrichtssituation liegen vier Gegenstände auf dem Fußboden in der Mitte des Bänkekreis. Das Thema der Unterrichtsstunde sind die geometrischen Körperformen Quader, Würfel, Zylinder und Kugel. Die Namen der Kinder wurden im Sinne des Datenschutzes geändert.
5.1.2 Die Beschreibung
Es ist 08.03 Uhr. Die Lehrerin stellt den Schüler*innen die Gegenstände vor, welche inmitten des Bänkekreises auf dem Fußboden liegen. Dabei zeigt sie mit dem Finger auf den jeweiligen Gegenstand und benennt diesen mit einer alltagssprachlichen Bezeichnung (Spielwürfel, Ball, Glas, Karton). Anschließend fragt sie die Schüler*innen ob diese bereits den Fachbegriff für die jeweilige geometrische Körperform kennen. Augenblicklich strecken zehn Kindern den Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger weit nach oben. Dabei schauen sie die Lehrperson an, sitzen auf ihren Plätzen und sind leise. Mila und Jonas strecken ihren Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger nach vorne in Richtung der Lehrperson. Emilia ruft mit ausgestrecktem Arm „Bitte, Bitte, ich weiß es“ und schnipst dabei mit den Fingern. Derweil steht Lars von der Bank auf. Er stützt sich mit einem Knie auf der Bank ab und streckt seinen durchgestreckten Arm weit nach oben. Dabei kneift er seine Augen leicht zusammen. Ein leises „Mhhh“ begleitet seine Geste. Sophia richtet ihren Blick auf die Gegenstände. Sie zieht die Stirn in Falten und reißt augenblicklich mit einem lauten „Ah“ ihren ausgestreckten Arm nach oben. Die Lehrperson nimmt Sophia dran. Sie nimmt ihren Arm herunter, zeigt auf einen Gegenstand und beginnt mit der Vorstellung des ersten geometrischen Körpers. Die anderen Kinder, welche sich ebenfalls gemeldet haben, nehmen ihren Arm herunter. Lediglich Lars bleibt mit dem angewinkelten Bein auf der Bank abgestützt stehen. Sein linker Arm ist weiterhin weit nach oben gestreckt. Sophia erkundigt sich mit dem Blick in Richtung der Lehrperson gewandt, ob sie anschließend das nächste Kind dran nehmen darf. Die Lehrperson schaut Sophia an und nickt ihr zu, worauf hin diese von der Bank aufsteht. Prompt melden sich acht Kinder. Sophia lässt den Blick durch den Bänkekreis, zwischen den sich meldenden Kindern, schweifen. Mila und Tom strecken den Arm in Sophias Richtung. Leonie hebt zögernd ihren Arm nach oben. Sie hält ihre Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger dicht vor ihren Oberkörper. Als Sophia in Leonies Richtung schaut, zieht diese ihren Arm vorsichtig nach unten und drückt diesen seitlich an ihren Oberkörper. Nachdem Sophia den Blick von Leonie abwendet, nimmt diese den Arm langsam vor den Oberkörper und streckt den Zeigefinger aus. Ihr Kopf ist dabei nach unten geneigt. Sophia tippt sich mit den Fingern auf die Lippen, schaut zwischen Mila und Tom hin und her und sagt zögerlich „Hmmm… Tom“. Mila stöhnt laut auf, ihr Oberkörper sackt dabei auf der Bank zusammen. Tom nennt die richtige Antwort und nimmt mitten in der Antwort ebenfalls die Hand herunter. Die anderen Kindern senken ebenfalls ihre Hände. Nachdem Tom den geometrischen Körper vorgestellt hat, melden sich unaufgefordert zwölf Kinder. Lars nimmt sein Knie von der Bank, richtet seinen Oberkörper auf und streckt beide Arme mit ausgestreckten Zeigefingern weit nach oben. Noch bevor Tom ein anderes Kind dran nehmen kann, bittet die Lehrerin Tom um Entschuldigung und nimmt augenblicklich Matteo dran, der den Blick zum Fußboden gerichtet auf der Bank sitzt, die Hände rechts und links neben sich auf der Bank abgestützt hat und mit den Füßen vor und zurück wippt. Matteos Kopf fährt ruckartig nach oben. Er schaut zur Lehrperson und weist diese darauf hin, dass er sich nicht gemeldet hat. Die Lehrerin verlangt trotz dessen eine Antwort. Matteo presst seine Lippen leicht zusammen, zuckt mit den Schultern und schweigt. Lars ruft „Das weiß doch jeder, darf ich Matteo helfen?“ Die Lehrperson sagt, dass Matteo ein Kind drannehmen darf, wenn er Hilfe benötigt. Sie bittet Matteo, ein Kind dran zu nehmen, welches sich leise meldet. Lennard, welcher neben Matteo auf der Bank sitzt, streckt geradewegs seinen Arm vor Matteos Gesicht. Es melden sich zehn weitere Kinder, welche den Arm mit dem ausgestreckten Zeigefinger in die Höhe strecken und leise auf den Bänken sitzen. Darunter auch Mila, welche scheinbar ungeduldig beginnt mit den Fingern zu schnipsen und auf der Bank auf und ab hüpft. Matteo ruft Lennard auf, welcher die richtige Antwort nennt. Lars stampft mit dem Bein auf den Boden, verschränkt die Arme vor der Brust, presst die Lippen zusammen und setzt sich scheinbar frustriert auf seinen Platz. Dabei sagt er leise „Nie werd‘ ich dran genommen“. Die Lehrperson weist darauf hin, dass noch ein Gegenstand übrig ist und fragt nach dem Fachbegriff des noch übrig gebliebenen geometrischen Körpers. Schlagartig gehen elf Arme nach oben. Mila streckt ihren Arm weit nach vorne in Richtung der Lehrperson und fixiert diese mit ihrem Blick. Ihre Augen sind weit geöffnet und ihre Augenbrauen leicht hochgezogen. Leo ist von der Bank aufgestanden. Er hat ein Knie auf der Bank und einen Ellenbogen auf der anliegenden Fensterbank abgesetzt. Er stützt mit dem Ellenbogen seinen Kopf und hält seinen linken Arm mit einem ausgestreckten Zeigefinger in Höhe seines Kopfes hoch. Mats meldet sich und streckt dabei beide Arme nach oben. Niklas stützt sich mit seinem Ellenbogen auf seinem Oberschenkel ab und streckt seinen Arm nach oben. Milo lehnt sich gegen die anliegende Wand zurück und hebt den Arm halbhoch vor sein schräg zur Seite geneigtes Gesicht. Sein Blick wandert scheinbar gedankenversunken durch den Klassenraum. Alle anderen Kinder strecken ihren Arm weit nach oben. Die Lehrperson nimmt Mila dran, welche von der Bank aufsteht, in die Mitte des Bänkekreises geht, den Gegenstand in die Hand nimmt und mit lauter und deutlicher Stimme sagt „Das ist ein Kreis“. Lars zieht die Stirn in Falten und ruft mit einem auf mich ablehnend wirkenden Blick „Das ist doch kein Kreis, das ist ein Ball“. Niklas sagt, noch während Lars spricht, kaum hörbar und mit gedämpfter Stimme „Das ist eine Kugel“. Die Lehrerin macht das Leisezeichen und schüttelt den Kopf. Dabei runzelt sie die Stirn, ihr Blick schweift durch den Bänkekreis. Sie schaut Mila an und zeigt mit ihrem Blick auf den leeren Platz auf der Bank. Mila legt den Gegenstand auf den Boden und setzt sich hin. Die Kinder werden leise und sitzen still auf ihren Plätzen. Ihre Blicke sind auf die Lehrperson gerichtet. Diese sagt laut und mit einer missmutigen Stimmlage „Ich habe Mila dran genommen. Wieso quatschen alle dazwischen? Wenn du etwas sagen möchtest, weißt du doch, dass du dich leise melden sollst.“ Einige Kinder nicken zustimmend, andere Kinder senken den Blick auf den Fußboden. Die Lehrperson sagt seufzend, den Blick zu Niklas gerichtet „Niklas möchtest du noch einmal sagen, wie unser letzter geometrischer Körper heißt?“. Niklas nennt erneut die richtige Antwort. Die Lehrperson bestätigt die Antwort und beginnt die folgende Arbeitsphase einzuleiten.
5.2 Beobachtung 2: Ein Wettstreit um das Rederecht und die Aufmerksamkeit der Lehrperson
5.2.1 Die Situation
Die folgende Szene ereignet sich im Deutschunterricht. Es ist die dritte Schulstunde in der Klasse 2b an diesem Tag. In der Klasse sind 27 Schüler*innen sowie die Klassenlehrerin während des Beobachtungsprozesses vertreten. Die Kinder haben die Arbeitsphase soeben beendet. Die Schüler*innen sitzen auf ihren Plätzen und die Lehrperson steht im vorderen Bereich des Klassenzimmers vor der Tafel. Die Namen der Kinder wurden im Sinne des Datenschutzes geändert.
5.2.2 Die Beschreibung
Es ist 10:20 Uhr. Die Lehrerin steht vor der Tafel und fragt, den Blick in die Klasse gerichtet, welches Kind sein Elfchen oder sein Akrostichon vorlesen möchte. Elf Kinder melden sich, in dem sie ihre Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger weit nach oben strecken. Einige der Arme sind nicht nach oben, sondern nach vorne in Richtung der Lehrerin ausgestreckt. Die meisten Kinder sind dabei still, sitzen ruhig auf ihren Plätzen und schauen nach vorne zu der Lehrperson. Fiona streckt ruckartig ihren Arm nach oben, winkt mit ihrer Hand hin und her, presst die Lippen aufeinander und schaut die Lehrkraft mit weit geöffneten Augen an. Sie sagt „Bitte, Bitte, ich möchte unbedingt vorlesen“. Die Lehrerin nimmt Anna dran. Sie schaut darauf folgend zu Fiona und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Die anderen Kinder nehmen ihren Arm wieder runter. Fiona senkt ebenfalls ihren Arm und verschränkt die Arme vor der Brust. Nachdem Anna die letzten Worte ihres Gedichtes vorgelesen hat, meldet sich Fiona. Sie löst ihre verschränkten Arme und streckt ihre Hand mit einem ausgestreckten Zeigefinger nach oben. Dabei sitzt sie ruhig auf ihrem Stuhl und ist still. Die Lehrperson ruft Fionas Namen auf und erkundigt sich bei ihr, ob sie Anna eine Rückmeldung geben möchte. Daraufhin antwortet Fiona „Nein, ich möchte fragen, ob ich mein Gedicht vorlesen darf.“ Die Lehrperson nickt und bittet Fiona einen Moment abzuwarten. Nachdem Anna eine Rückmeldung für ihr Gedicht erhalten hat, wendet die Lehrerin ihren Blick Fiona zu und nickt. Fiona schaut die Lehrperson an, lächelt und fängt an ihr Elfchen vorzulesen. Darauffolgend schaut die Lehrerin durch den Klassenraum und erkundigt sich, welche Kinder ebenfalls ihre Gedichte vorlesen möchten. Neun Kinder strecken eifrig ihre durchgestreckten Arme mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben. Die Lehrperson ruft Tim auf, welcher den Arm mit ihrem Ellenbogen auf dem Tisch abstützt und den ausgestreckten Finger nah neben sein Gesicht hält. Er schaut dabei im Klassenraum umher. Die restlichen Kindern nehmen ihren Arm herunter. Tim liest sein Gedicht vor. Einige Kinder beginnen dabei leise mit ihrem Sitznachbarn zu sprechen. Lars ruft dazwischen „Du hast die vierte Zeile vergessen“. Tim schaut in Richtung der Lehrperson. Diese weist Lars zurecht und sagt ihm, dass er sich bitte am Ende des Gedichtes leise melden soll, wenn er Tim einen Tipp geben möchte und bittet die anderen Kinder die Gespräche einzustellen. […] Die Lehrerin verkündet, dass nun das letzte Gedicht für heute vorgelesen wird. Sie schaut durch den Klassenraum. Erneut schnellen zehn ausgestreckte Zeigefinger weit nach oben. Samuel sitzt dabei seitlich auf seinem Stuhl und stützt seinen Ellenbogen auf der Stuhllehne ab. Sein Arm ist leicht, aber nicht vollständig nach oben gestreckt. Im Laufe der Unterrichtssituation melden sich Johanna und Tom durchgehend auf die Fragen der Lehrperson. Sie sitzen dabei auf ihren Stühlen und strecken ihren Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger nach oben in Richtung der Lehrperson. Dabei sind sie still. Chira, welche den Arm ausgestreckt nach oben hält und mit den Fingern schnipst, wird von der Lehrperson drangenommen. Nachdem das Gedicht vorgelesen wurde, breitet sich ein leises Gemurmel in der Klasse aus. Die Lautstärke in der Klasse nimmt langsam zu. Die Lehrerin ergreift das Wort und bedankt sich für das Vorlesen der Gedichte. Johanna und Tom senken ihre Hände, ihre Schultern sacken dabei leicht nach unten. Tom sagt laut in Richtung der Lehrkraft, dass er trotz der fortwährenden Meldung nicht drangenommen wurde. Die Lehrperson entschuldigt sich bei den Kindern und erklärt, dass die Zeit nicht mehr reicht, damit alle Kinder ihre Gedichte vorlesen dürfen. Sie erläutert weiterführend „Ich habe eure Meldungen gesehen, beim nächsten Mal dürft ihr eure Gedichte vorlesen.“
6. Analytische Dimensionierung: Melden im Unterricht – Strategien, Dynamiken und soziale Inszenierungen
Das Melden wird als Geste von den Schüler*innen durch das Heben oder Ausstrecken des Armes mit einem ausgestreckten Zeigefinger ausgeführt. Unterdessen sind sie meist still und sitzen ruhig auf ihren Plätzen und schauen zur Lehrperson. Damit signalisieren die Schüler*innen durch eine scheinbar routinierte und selbstläufige Ausübung dieser körperlichen Praktik, Interesse an der aktiven Teilnahme am Unterrichtsgespräch. Oftmals handelt es sich dabei um den Versuch, auf eine Frage der Lehrkraft zu antworten. Das Recht der Turn-Zuteilung liegt in der Regel in den Händen der Lehrperson. Eine Meldung von Schüler*innen kann in diesem Zusammenhang als ein Selektionsangebot an die Lehrperson verstanden werden (vgl. Budde, 2011,S . 131; Kalthoff, 2021, S. 90; Breidenstein, 2006, S. 98).
Der regelmäßige und routinierte Ablauf aufeinander bezogener Handlungen zwischen der Lehrperson und den Schüler*innen (Frage – Melden – Aufrufen) trägt zu einer Herstellung und Aufrechterhaltung einer unterrichtlichen Ordnung bei. Dem Melden kommt demnach eine grundlegende Funktion für die Organisation und Strukturierung unterrichtlicher Kommunikation zu. Diese basiert auf einer Reihe transformierter Regeln der alltäglichen Kommunikation und impliziert die zeitliche Ordnung des Sprechens, ein Wechsel der Sprecher*innen und eine Fokussierung des Unterrichtsgeschehens (vgl. Wiesemann, 2011, S. 180; Budde, 2011, S. 130; Kalthoff & Kelle, 2000, S. 698 f.; Dorow et al., 2012, S. 79). Aufgrund dieser spezifischen Organisationsstruktur von Unterricht, welche sowohl im Kontext des Frontalunterrichts als auch innerhalb der Unterrichtssituation im Sitzkreis sichtbar wird, können nicht alle Schüler*innen gleichermaßen berücksichtigt werden. Gleichzeitig wird von Ihnen, im Rahmen der Ausübung ihrer Rolle als Schüler*in erwartet, sich aktiv am Unterrichtsgespräch zu beteiligen. Dieses Spannungsverhältnis führt zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Schüler*innen um die Redeanteile und um die Aufmerksamkeit der Lehrperson. Infolgedessen wird die Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens innerhalb einer erheblichen Variationsbreite und Bedeutungsvielfalt realisiert. Die Meldung kann dabei durch zusätzliche körperliche Praktiken oder verbale Unterstützungen variieren (vgl. Budde, 2011, S. 130 f.; 137). In ihrer Ausübung zeigt sich die individuelle Haltung gegenüber dem Wunsch, etwas sagen zu wollen, wie auch der Umgang mit der Erwartungshaltung und den interaktiven Zwängen des Unterrichts, etwas sagen zu müssen. Fiona und Chira inszenieren mittels ihrer ruckartigen Meldung mit einer winkenden Hand und aufeinandergepressten Lippen oder schnipsenden Fingern ein dringliches Bedürfnis, etwas sagen zu wollen. Eine reduzierte, lässige und abwesend wirkende Ausübung der Geste wie beispielswiese ein aufgestützter Arm auf der Stuhllehne und ein abwesend erscheinender Blick aus dem Fenster von Samuel symbolisieren das Melden als eine lästig erscheinende Pflichtübung. Ein langsames oder zögerliches Heben des Armes von Leonie oder ein abgestützter Arm und ein dicht neben dem Gesicht ausgestreckter Zeigefinger von Tim markieren das Melden als ein riskanten Versuch.
Die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Meldung ebenso zu der Erteilung des Rederechts seitens der Lehrperson führt, ist variabel. Die Schüler*innen verfügen über ein Wissen um die Wahrscheinlichkeit, mit der ihre Meldung zu einer Zuweisung des Rederechts führt. Folglich sind mit der Praxis des Meldens Strategien verbunden, welche bewusst von den Schüler*innen angewendet werden. Eine mögliche Meldung korreliert folglich mit der individuellen Chance oder dem Risiko drangenommen zu werden. Das Ziel kann es dabei sein, dass die Meldung als Zeichen von Engagement durch die Lehrperson gewertet wird. Richtet man den Blick auf die Ausübung der Meldungen von Leonie oder Tim, so zeigt sich, dass diese vermeintlich unsicher sind bezüglich der Richtigkeit ihrer Antwort. Gleichwohl üben Sie ihre Rolle als Schüler*in aus, denn auch eine undeutliche zurückhaltende Meldung, kann von der Lehrperson als eine Beteiligung am Unterricht gedeutet werden (vgl. Breidenstein, 2006, S.99 ff.).
Im Rahmen der Beobachtungen können aufdringlich wirkende Meldungen identifiziert werden, wie beispielsweise Emilias bettelnd erscheinende Rufe „Bitte, Bitte, ich weiß es“ oder die körperliche Ausrichtung und sprachliche Erweiterung von Lars (aufstehen, abgestütztes Knie auf der Bank, „Mhhh“). Die Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens von Mila ändert sich im Verlauf des Unterrichts. Zunächst wird sie nicht drangenommen und inszeniert ihre Enttäuschung durch das Zusammensacken des Oberkörpers auf der Bank. Sie ändert ihre Strategie, indem zunächst eine körperliche Erweiterung der Meldung ausübt (Finger schnipsen, auf der Bank auf und ab hüpfen) und zuletzt den Zeigefinger in Richtung der Lehrperson streckt und diese mit ihrem Blick fixiert, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Dies gelingt ihr mit Erfolg. Die Schüler*innen verfügen folglich über verschiedene Möglichkeiten, die Wahrscheinlichkeit des Drankommens zu beeinflussen. Neben der Inszenierung dringlicher Bedürfnisse mit Blick auf die Teilnahme am Unterricht und die (richtige) Beantwortung der Frage, üben die Schüler*innen Meldungen aus, um die eigene Person im Rahmen der Klassenöffentlichkeit hervorzuheben und zu zeigen „das man etwas weiß“. Es geht folglich um die Inszenierung der Rolle als Schüler*in. Darin zeigt sich ein bestimmtes Handlungsmuster, welches die schulische Ordnung ausmacht und aufrechterhält (vgl. Wiesemann, 2011, S. 173; Breidenstein, 2006, S. 101).
Kalthoff (2021) beschreibt, dass Schüler*innen ebenso Strategien der Unscheinbarkeit nutzen, um nicht aufzufallen. Dazu gehört es unter anderem, nicht zu abgelenkt oder konzentriert zu wirken (S. 90). Durch eine zurückhaltende Meldung und eine passive Körperhaltung lässt sich die Aussage Kalthoffs genauer erklären und definieren (Milo lehnt zurück und hebt den Arm halbhoch vor sein zur Seite geneigtes Gesicht. Sein Blick wandert scheinbar gedankenversunken durch den Klassenraum). Es zeigt sich, dass es Strategien geben kann, um kein Teil des Unterrichtsgesprächs sein zu müssen und zeitgleich den Erwartungen und interaktiven Zwängen, welche mit der Ausübung der Schüler*innenrolle einher gehen, gerecht zu werden.
Als eine weitere Strategie um das Rederecht zu erhalten, benennt Breidenstein (2006) das „Forcieren“ des Drankommens, welches häufig durch das Reinrufen einer Antwort vollzogen wird (S. 101). Das Umgehen einer Meldung erfolgt meistens durch das „in die Klasse rufen“ der Lösung, welches oftmals im Nachgangs seitens der Lehrperson bestätigt wird, in dem die Äußerung als Beitrag im Unterrichtsgespräch legitimiert wird (vgl. Breidenstein, 2006, S. 101 f.; Budde, 2011, S. 131 f.; S. 141 f.). Die Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens erfolgt in der Situation oftmals informell und spontan. Die temporäre Übertragung der Verteilung des Rederechts an Sophia, führt dazu, dass sich die Schüler*innen scheinbar ermutigt fühlen, eine Meldung zu umgehen oder zu ignorieren (Lars ruft „Das ist doch kein Kreis, das ist ein Ball“. Niklas sagt, noch während Lars spricht, „Das ist eine Kugel“). Die Lehrperson legitimiert das Reinrufen und das Umgehen der Meldung, indem Sie die Lösung von Niklas in den Unterrichtsverlauf aufnimmt. Die Interpretation und Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens kann somit als individueller und situativer Aushandlungsprozess verstanden werden, welcher ebenfalls impliziert die Regel innerhalb einer differenzierten sozialen Praxis und unter Interpration der jeweiligen Situation oder Interaktion, zu umgehen oder zu ignorieren (vgl. Kalthoff & Kelle, 2000, S. 701, S. 708).
Die Erinnerung und Ermahnung an eine konforme Ausübung der Praktik des Meldens, erfolgt vorwiegend in Situationen, in denen die unterrichtliche Ordnung und das Unterrichtsgespräch gestört wird. Darauf folgend wird der routinierte Ablauf des Unterrichts fortgesetzt und die unterrichtliche Ordnung wieder hergestellt (vgl. Budde, 2011, S. 141 ff.). So kann das Kopfschütteln der Lehrperson auf Fionas regelwidrige Meldung als Erinnerung an die korrekte Ausführung der unterrichtlichen Praktik des Meldens verstanden werden. Die Ermahnung und Erinnerung der korrekten Ausübung der unterrichtlichen Praktik geht mit einer Ratifizierung des unaufgeforderten Sprechens einher, indem die Lehrperson die Antwort von Niklas in den Unterrichtsverlauf aufnimmt und diesem daraufhin das offizielle Rederecht überträgt, um seine Antwort erneut geben zu können (vgl. Breidenstein, 2006, S. 101). In diesem Zusammenhang kann der Blick erneut auf Niklas und Lars gerichtet werden, welche selbstständig das Wort ergriffen haben, ohne auf die Zuweisung der Lehrkraft zu warten. Bei Lars kann dieses Verhalten möglicherweise auf seine langen regelwidrigen erfolglosen Meldungen und ein zunehmendes Gefühl von Frustration („Nie wird ich drangenommen“) zurückgeführt werden. Niklas möchte sich möglicherweise gegenüber seiner Mitschüler*innen durchsetzen und ist motiviert, die richtige Antwort nennen zu wollen (vgl. Sacher, 1995, S. 61). Prinzipiell liegt das Rederecht fortwährend bei der Lehrperson und dieser ist es zu jedem Zeitpunkt, aufgrund ihrer sozialen und institutionell bedingten Position, erlaubt zu sprechen („ Noch bevor Tom ein anderes Kind dran nehmen kann, bittet die Lehrerin Tom um Entschuldigung und nimmt augenblicklich Matteo dran…“). Darin zeigt sich die soziale Position von Schüler*innen und Lehrer*innen innerhalb der Unterrichtspraxis sowie deren asymmetrische Beziehung. Die Lehrperson ist bei der Verteilung des Rederechts eigenen Gerechtigkeitsansprüchen und dem Fortgang des Unterrichts verpflichtet. Die Ausübung einer Meldung seitens der Schüler*innen führt somit zu einer Etablierung und Festigung aller Akteur*innen. Die Aushandlung und Ausübung der unterrichtlichen Praktik des Meldens soll zu einer Herstellung der spezifischen schulischen und unterrichtlichen Ordnung beitragen („doing class“). Die Beteiligung am Unterricht ist seitens der Schüler*innen in einen Zwiespalt zwischen der Rolle als Schüler*in („doing pupil“) und den Varianten des „doing peers“ eingebunden. Dabei handelt es sich um Praktiken, bei denen die individuelle Performance im Rahmen der Klassenöffentlichkeit im Vordergrund steht (vgl. Budde, 2011, S. 142 f.). Dieser Zwiespalt zeigt sich in der Herausforderung, mit welcher Sophia konfrontiert wird. Sie muss zunächst ihre Rolle als Schülerin durch die konforme Ausübung der unterrichtlichen Praktik ihrer Meldung und der aktiven Teilnahme am Unterricht gerecht zu werden und darauffolgend im Sinne der Meldekette ein anderes Kind der Klasse auswählen. Die Ausübung einer Meldung oder ebenso die Ignoranz oder das Umgehen einer Meldung (Lars ruft „Das weiß doch jeder, darf ich Matteo helfen?“), dient somit ebenfalls einer individuellen Inszenierung auf der Bühne der Klassenöffentlichkeit vor den Augen der Mitschüler*innen sowie einer Aushandlung und Festigung der sozialen Position innerhalb des „doing peers“ (vgl. Budde, 2011, S. 143).
7. Fazit: Melden als komplexe alltägliche Praktik im Unterricht
Die vorliegende Mikrostudie liefert wertvolle Erkenntnisse über die Ausübung und Realisierung des Meldens als alltägliche Praktik im Unterricht. Sie zeigt eine Variationsbreite und Bedeutungsvielfalt in der Ausübung der Praktik des Meldens. Diese eröffnen einen Einblick in die soziale Praxis im Unterricht sowie die individuellen Strategien und Aushandlungsprozesse der Schüler*innen, die ihre Entscheidungen beeinflussen, ob und wie sie sich im Unterricht melden. Dabei stellt die Flexibilität der Handhabung der Meldepflicht eine Grundlage für die Stabilität von Unterricht dar und scheint folglich den eigentlichen Charakter der Interaktionssequenz auszumachen (vgl. Budde, 2011, S. 137). Die Pflicht der Meldung dient dabei hauptsächlich der Herstellung und Ordnung von Unterricht und soll sicherstellen, dass die Schüler*innen sich körperlich auf einen bestimmten und regelgeleiteten Modus der Teilnahme am Unterricht ausrichten. Der Vollzug des Sprecherwechsels zwischen Lehrperson und Schüler*innen ist routiniert in die alltägliche Praxis eingebunden und folgt somit einer schulischen Logik und dient der Herstellung unterrichtlicher Ordnung (vgl. Wiesemann, 2011, S. 171). Schulische Kommunikation ist folglich gekennzeichnet von einer Asymmetrie der Sprecher*innen, einer zeitlichen Ordnung unterrichterlicher Beiträge, dem Wechsel der Sprecher*innen sowie einem Auswahlverfahren. Sie basiert auf einer Reihe von transformierten Regeln der alltäglichen Kommunikation (vgl. Kalthoff & Kelle, 2000, S. 698). Darüber hinaus verdeutlicht die Studie, dass das Melden im Unterricht ebenfalls eine soziale Praxis darstellt. Schülerinnen nutzen das Melden, um sich selbst in Bezug auf ihre Klassenkamerad*innen, die Lehrperson und den Unterrichtsinhalt zu positionieren. Dies kann dazu dienen, soziale Anerkennung zu erlangen, das eigene Wissen und Können zu präsentieren oder auch Unsicherheiten zu verbergen. Die Ergebnisse legen nahe, dass das Melden eine wichtige Rolle bei der Konstruktion sozialer Identitäten und Beziehungen im Unterricht spielt. Die vorliegende Mikrostudie zeigt, dass das Melden im Unterricht nicht nur ein einfaches Kommunikationsmittel ist, sondern auch ein Indikator für die Teilhabe der Schüler*innen am Lernprozess. Durch eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Studie können Lehrpersonen ihre Unterrichtsstrategien anpassen und gezielt auf die Bedürfnisse ihrer Schüler*innen eingehen. Eine offene und kooperative Unterrichtskultur bietet dabei eine Möglichkeit, das Melden als Instrument zur Förderung von Partizipation und aktiver Mitgestaltung des Unterrichts einzusetzen. Die individuelle Motivation der Schüler*innen, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Darüber hinaus sollte die Dynamik innerhalb der Klasse berücksichtigt werden. Die Interaktionen zwischen den Schüler*innen und deren soziale Beziehungen können das Meldesystem beeinflussen. Eine positive Klassengemeinschaft, in der alle Stimmen gehört und respektiert werden, kann dazu beitragen, dass sich Schüler*innen melden und aktiv am Unterrichtsgeschehen beteiligen. Bei weiteren Forschungsansätzen wäre es sinnvoll, die Perspektive der Schüler*innen weiter zu untersuchen, um ihre Wahrnehmung mit Blick auf das Melden im Unterricht besser zu verstehen. Es könnten Faktoren untersucht werden, welche die Entscheidung der Schüler*innen beeinflussen, sich im Unterricht zu melden oder nicht. Zudem könnte analysiert werden, welche Auswirkungen eine Meldung auf die Lernmotivation oder das Selbstwertgefühl hat. Eine sinnvolle Ergänzung des ethnographischen Ansatzes könnte die Integration einer videobasierten Analyse sein, um die Komplexität der alltäglichen unterrichtlichen Praktik des Meldens besonders mit Hinblick auf nonverbale Kommunikationsformen zu erfassen. Dadurch könnten weitere Erkenntnisse über das Verhalten der Schüler*innen und die sozialen Dynamiken gewonnen werden.
8. Literaturverzeichnis
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Breidenstein, G. (2012). Ethnographisches Beobachten. In H. de Boer, & S. Reh (Hrsg.), Beobachtungen in der Schule – Beobachten lernen (S. 27-44). Springer VS.
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Kalthoff, H. (2011). Beobachtung und Ethnographie. In R. Ayaß, & J. Bergmann (Hrsg.), Qualitative Methoden der Medienforschung (S. 146-182). Verlag für Gesprächsforschung.
Kalhoff, H. (2021). Wohlerzogenheit. Eine Ethnographie deutscher Internatsschulen (2. unveränderte nachgedruckte Auflage). Campus Verlag.
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