Wie machen die Akteur*innen Regeln als gemeinsame soziale Praktik bei der Ausübung des Leisezeichens zu Beginn des Unterrichts?

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

1.     Einleitung

Innerhalb des Schulalltags existieren soziale Praktiken, welche den Schüler*innen abverlangt werden, um schulische Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Die Praktiken dienen der Erreichung normativer Verhaltensstandards und ermöglichen die performative Hervorbringung und Umsetzung schulischer Regeln. Eine kompetente und routinisierte Ausübung der Praktiken führt zu einer gegenseitigen Erwartbarkeit zwischen den schulischen Akteur*innen im täglichen Miteinander (vgl. Jäger, 2019, S. 46). Trotz des allgemeinen Normierungsanspruchs von Regeln wird deren Bedeutung und Anwendung differenziert und situativ interpretiert. Diesem Verständnis zufolge strukturieren Regeln die Praxis und konstituieren Bedeutung. Sie werden folglich intersubjektiv konstituiert. Regeln sind in der schulischen Praxis allgegenwärtig. Es existieren eine Vielzahl impliziter, nicht schriftlich fixierter und klar definierter Interaktions- und Kommunikationsregeln. Es ist aus ethnographischer Perspektive von zentraler Bedeutung, wie bestimmte Regeln das Handeln der Akteur*innen bestimmen, regeln oder repräsentieren und inwiefern die Regeln Geltung besitzen oder von den Akteur*innen fortwährend und wiederholt neu ausgelegt werden (vgl. Kalthoff & Kelle, 2000, S. 691 ff.). Dementsprechend soll im Rahmen der vorliegenden ethnographischen Arbeit folgender Fragestellung nachgegangen werden: „Wie machen die Akteur*innen Regeln als gemeinsame soziale Praktik bei der Ausübung des Leisezeichens zu Beginn des Unterrichts?“. Das Leisezeichens wird im schulischen Kontext durch das Heben der rechten Hand und dem Auflegen des linken Zeigefingers auf die Lippen ausgeführt. Es wird von der Lehrperson verwendet, um den Beginn von Unterricht zu inszenieren und den Übergang von einer nicht-unterrichtlichen Kommunikation zur Unterrichtskommunikation einzuleiten. Folglich dann das Leisezeichen als implizite Interaktions- und Kommunikationsregel im Unterricht begriffen werden. Die Ausübung der Geste zielt auf die Herstellung einer gemeinsamen Klassenöffentlichkeit und die Fokussierung der Aufmerksamkeit, um grundlegende Voraussetzung für den Unterricht und schulisches Lernen zu schaffen (vgl. Wiesemann, 2011, S. 169; S. 172 f.). Die Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet eine ethnographische Beobachtung aus dem Schulalltag, welche ich während meines Praxissemesters angestellt habe, sowie eine davon ausgehende dichte Beschreibung. Ich werde im Sinne des oben formulierten Forschungsschwerpunktes innerhalb einer analytischen Dimensionierung herausarbeiten, wie die Ausübung des Leisezeichens als kollektive Handlungsweise und alltägliche soziale Praktik konstruiert, ausgehandelt und praktiziert wird, um Regeln in der schulischen Praxis hervorzubringen, zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Das abschließende Fazit impliziert eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie einen Ausblick auf mögliche weitere Forschungsfelder.

2.     Ausgewählte dichte Beschreibungen schulischer Situationen: Das Leisezeichen als stummer Impuls und gemeinsame soziale Praktik

2.1    Die Situation

Die Beobachtung findet in der zweiten Klasse in einer Gemeinschaftsgrundschule im Raum Lichtstetten statt. An diesem Tag sind alle 27 Kinder der Klasse anwesend.  Ich sitze bei der Beobachtung am Lehrerpult, auf welchem mein Notizblock und mein Mäppchen mit Stiften liegt. Das Lehrerpult ist im vorderen Bereich des Klassenzimmers rechts von der Tafel positioniert. Der Standort ermöglicht es, alle Akteur*innen, sowie deren Mimik und Gestik überblicken und beobachten zu können. Die Lehrerin hält sich hier nur sehr selten auf. Sie läuft in den Arbeitsphasen meist durch den Klassenraum. Der Klassenraum ist sehr groß und aufgrund einer großen Fensterfront lichtdurchflutet. Die Tische sind in einer U-Form ausgerichtet. Innerhalb der U-Form befinden sich zusätzliche Tischreihen. Alle Tischen sind so ausgerichtet, dass die Kinder frontal oder seitlich zur Tafel schauen können. Im hinteren Bereich befindet sich ein Sitzkreis mit fünf  Bänken und einem zusätzlichen Whiteboard. Außerdem stehen an den Wänden einige Regale und Schränke für Klassenmaterialien, Arbeitsmaterialien und die Bücher aller Kinder. Der Alltag der Klasse ist geprägt von einer ritualisierten und organisierten Unterrichtsstruktur. Morgendliche Rituale, sowie strukturierte Übergänge zwischen dem Anfang oder dem Ende der Stunde und der Arbeitsphase sind alltäglich. Sowohl zu Beginn einer Stunde als auch im Verlauf des Unterrichts, beispielsweise beim Einfinden der Kinder im Sitzkreis oder dem Übergang zwischen der Arbeitsphase und dem Ende des Unterrichts spielt das Leisezeichen, in Form eines Handzeichens, eine zentrale Rolle.

Die folgende Beobachtung findet in der erste Schulstunde statt. Die Schulstunde beginnt um 07.50 Uhr. Die Kinder haben in der ersten Stunde Deutsch bei ihrer Klassenlehrerin Frau Diehl. Das Vorgehen nach dem Schulgong läuft ritualisiert ab. Die Kinder bringen die Jacken zu ihren Haken an der Garderobe. Die Garderobe befindet sich im Flur vor dem Klassenzimmer. Anschließend begeben sie sich mit ihren Schulranzen in den Klassenraum.  Der Beobachtungszeitraum erstreckt sich von 07.50 bis 07.56 Uhr. Die Namen der Kinder und der Lehrperson wurden im Sinne des Datenschutzes geändert.

2.2    Die Beschreibung  

Die Kinder kommen nach und nach mit ihren Schulranzen in die Klasse. Sie finden sich auf ihren Plätzen ein, stellen ihren Stuhl vom Tisch und nehmen ihren Schulranzen von den Schultern. Die Schüler*innen positionieren ihren Ranzen neben ihrem Stuhl. Einige Kinder setzen sich auf ihren Stuhl, andere lehnen sich auf den Tisch oder stehen vor den Tischen ihrer Mitschüler*innen. Es herrscht ein allgemeines Gemurmel in der Klasse. Einige Kinder kramen in ihren Brotdosen oder holen das Federmäppchen aus ihrem Schulranzen. Nachdem alle Kinder eingetreten sind, schließt die Lehrkraft die Tür des Klassenzimmers und stellt sich mittig vor die Tafel. Ihre Körperhaltung ist dabei aufrecht und geöffnet, dabei richtet sie den Blick auf die Schüler*innen. Die ersten Kinder reagieren unmittelbar. Ihre Augen weiten sich, sie heben die Köpfe, ziehen die Stühle nah an den Tisch und richten den Oberkörper auf.  Andere verstauen zügig ihre Brotdosen im Schulranzen. Frau Diehl hebt die rechte Hand. Sie legt den Zeigefinger der linken Hand auf ihre Lippen (Leisezeichen). Zeitgleich bringen sich einige Kinder auf ihren Plätzen in Position, d.h. sie lenken ihren Blick auf Frau Diehl und imitieren die Geste der Lehrperson unmittelbar. Einzelne Kinder versuchen die Aufmerksamkeit der noch sprechenden Kinder zu erlangen. Dabei weiten sie die Augen, ziehen ihre Augenbrauen hoch und deuten mit einem scheinbar auffordernden Blick in Richtung der Lehrperson. Dabei tippen sie sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen oder flüstern „Psst“. Nach und nach werden die Gespräche eingestellt und das Gemurmel verebbt. Die Lehrerin bedankt sich vereinzelt „Danke Victoria, dass du mir hilfst, dass wir mit dem Unterricht anfangen können“ oder reagiert mit den Worten „Tim hört schon aufmerksam zu“. Dabei steht sie weiterhin vor der Tafel, die rechte Hand nach oben gestreckt und den linken Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Die Schüler*innen imitieren die Geste weiterhin, während sie leise und aufgerichtet auf ihren Stühlen sitzen. Der Blick von Frau Diehl fokussiert die beiden Schüler, welche weiterhin ein angeregtes Gespräch führen. Tom steht mit dem Rücken zur Tafel vor dem Tisch von Jonas. Victoria dreht sich auf ihrem Stuhl um und schaut in die Richtung der sich unterhaltenden Kinder. Sie ruft verärgert „Seid doch endlich mal leise!“. Tom dreht sich um. Sein Blick schnellt von Victoria zu Frau Diehl. Diese schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen an und deutet anschließend mit ihrem Blick auf seinen leeren Stuhl. Ihr Gesichtsausdruck wirkt hart und angespannt. Tom senkt augenblicklich den Kopf und setzt sich rasch auf seinen Platz. Er richtet seinen Oberkörper auf, rückt mit seinem Stuhl nah an den Tisch und hebt seine rechte Hand nach oben und legt den Zeigefinger der linken Hand auf seine Lippen. Dabei zeigt sich ein zaghaftes Grinsen auf seinen Lippen, begleitet von einem leicht erröteten Gesicht. Jonas kippelt währenddessen mit dem Stuhl vor und zurück und schaut dabei abwesend aus dem Fenster. Die Lehrerin schaut zu Jonas, runzelt die Stirn, presst die Lippen aufeinander und neigt den Kopf etwas zur Seite. Frau Diehl sagt mit einer lauten und festen Stimme seinen Namen. Daraufhin schaut dieser ausdruckslos nach vorne, rückt seinen Stuhl nah an den Tisch und stützt seinen Ellenbogen auf den Tisch. Er hebt langsam seinen rechten Arm nach oben und legt den Zeigefinger des aufgestützten Armes auf seinen Mund. Sein Blick schweift durch das Klassenzimmer. Es ist still in der Klasse. Die Klassenlehrerin begrüßt die Kinder mit einem „Guten Morgen Lied“. Anschließend erinnert die Lehrperson die Kinder daran, dass der Unterricht erst beginnen kann, wenn alle Kinder aufmerksam und bereit sind, gemeinsam in den Tag zu starten. Das könne sie allerdings erst wissen, wenn alle Kinder das Leisezeichen machen.

3.     Analytische Dimensionierung: Die Herstellung schulischer Ordnung durch die Ausübung des Leisezeichens

Die analytische Dimensionierung erfolgt vor dem Hintergrund folgender Fragestellung „Wie machen die Akteur*innen Regeln als gemeinsame soziale Praxis?“. Der Beobachtungsfokus dieser Arbeit liegt auf dem Beginn einer Unterrichtsstunde.

Der Unterricht findet innerhalb eines klar definierten und zeitlich strukturierten Raumes statt. Durch das Schließen der Klassenzimmertür erlangt die Lehrperson mittels ihrer institutionellen Autorität eine symbolische Kontrolle und Begrenzung des unterrichtlichen Interaktionsrahmens. Die Übergangsphase zwischen dem offiziellen Schulbeginn, welcher durch den Schulgong markiert wird und dem Beginn des Unterrichts, ist gekennzeichnet durch eine Unbestimmtheit der sozialen Ordnung. Die Kinder sind währenddessen mit unterschiedlichen Tätigkeiten und Peeraktivitäten, wie beispielsweise dem Kramen in den Brotdosen oder den Gesprächen mit anderen Schüler*innen, beschäftigt (vgl. Jäger, 2019, S. 47 f.). Das Leisezeichen in Form eines stummen Impulses seitens der Lehrperson initiiert einen Wechsel von einer nicht unterrichtlichen zu einer unterrichtlichen Kommunikation. Die Lehrperson nutzt die Geste zur Eröffnung des Unterrichts um die Aufmerksamkeit der Schüler*innen zu gewinnen. Die Fokussierung der Aufmerksamkeit der Schüler*innen kann als eine elementare Bedingung für das unterrichtliche Lernen verstanden werden (vgl. Wiesemann, 2011, S. 172 f.). Zu Beginn der Unterrichtsstunde nimmt die Lehrkraft eine zentrale, gut sichtbare Position im Klassenraum ein, indem sie sich mittig vor die Tafel stellt. Sie tritt auf die Vorderbühne mit dem Ziel eine unterrichtliche Ordnung herzustellen. Ihre Positionierung reicht aus, um einige Kinder zu mobilisieren (… ihre Augen weiten sich, sie heben die Köpfe, ziehen die Stühle nah an den Tisch und richten den Oberkörper auf).

Die Schüler*innen zeigen durch das Einnehmen einer aufrechten Sitzhaltung und die Imitation des Leisezeichens, die Bereitschaft für die Aktivitäten auf der Vorderbühne (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 58). Sie stellen nach und nach ihre Gespräche ein und richten die Aufmerksamkeit auf die Lehrerin, in dem sie ihren Blick auf die Lehrperson lenken.  Die Ausübung des Leisezeichens scheint einen immanenten Aufforderungscharakter zu haben. Demzufolge weist die Imitation des Leisezeichens seitens der Schüler*innen darauf hin, dass sie über implizites Wissen bezüglich der Bedeutung und der Ausübung der Regel verfügen. Die routinierte Ausübung des Leisezeichens zu Beginn des Unterrichts führt innerhalb der Klassengemeinschaft zu einer gegenseitigen Erwartbarkeit und Verbindlichkeit. Die Aufrechterhaltung während der Unterrichtssituation führt dazu, dass sich alle Kinder zu einem möglichst simultanen Handeln verpflichtet fühlen (Die Schüler*innen imitieren die Geste weiterhin, während sie leise und aufrecht auf ihren Stühlen sitzen). Die Etablierung und Beibehaltung dieser Regel soll einen produktiven, störungsfreien und konzentrierten Unterrichtsbeginn sicherstellen und eine geordnete Lernumgebung erzeugen. Sie hat die Steuerung und Vereinheitlichung des Verhaltens aller Schüler*innen zum Ziel. Es wird von den Schüler*innen erwartet, dass sie die eigenen Interaktionen und Interessen anpassen, die Verbindlichkeit der Regelausübung erkennen und diese unaufgefordert adaptieren. Im Hinblick auf die konkrete Ausführung muss bemerkt werden, dass die Schüler*innen das Leisezeichen nicht nur imitieren, sondern zeitgleich auf einer bestimmten Weise auf ihren Stühlen sitzen, ruhig und geduldig sind. Die Schüler*innen haben feste Plätze in der Klasse und Aufgaben, welche nicht in Frage gestellt werden. Sie setzen die soziale Situation „Unterricht machen“ in Gang, sodass unterrichtliches Lernen stattfinden kann (vgl. Wiesemann, 2011, S. 169). Jäger spricht in diesem Zusammenhang von einer Konditionierung der Körperkontrolle. Die Ausübung des Leisezeichens mittels dem Heben der Hand und dem Verschließen der Lippen mit dem Zeigefinger impliziert das Aufrichten des eigenen Körpers sowie die Bedingung, alle anderen Aktivitäten einzustellen (vgl. Jäger, 2019, S. 54 ff.). Das Durchsetzen und Einfordern dieser Praktik scheint in erster Linie an die Position der Lehrperson gebunden zu sein. Die Beteiligung der Schüler*innen und deren fortwährende Ausübung des Leisezeichens kaschieren die institutionell bedingte und den Schulalltag bestimmende Machtasymmetrie zwischen der Lehrperson und den Schüler*innen. Diese wird allerdings durch die Positionierung der Lehrperson, die disziplinierte Adaption seitens der Schüler*innen und die kontrollierende nonverbale Aufforderung zur Partizipation sichtbar (… schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen an… deutet mit ihrem Blick auf seinen leeren Stuhl).

Die regelkonforme Ausübung ist eine wohl bekannte Voraussetzung für den Beginn des Unterrichts. Die Schüler*innen zeigen der Lehrperson durch das Ausüben der korrekten Regelpraxis, ihre Rolle als Schüler*in gegenüber der Lehrperson wahrzunehmen, zu akzeptieren und reproduzieren die gültige soziale Ordnung innerhalb der Klassengemeinschaft. Mittels der Ausübung des Leisezeichens kommt es zu einer gemeinschaftlichen Übereinkunft zwischen der Lehrperson und den Schüler*innen. In der Aufforderung „Seid doch endlich mal leise!“, mit der sich Victoria an ihre Mitschüler richtet, der kontinuierlichen Ausübung des Leisezeichens und der gegenseitigen Erinnerung mit Hilfe von akustischen Signalen („Psst“), wird die Einordnung der Schüler*innen in die unterrichtliche Ordnung sichtbar. Es zeigt sich, wie die Schüler*innen miteinander kommunizieren und interagieren, um soziale Praktiken zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Darin stellt sich die performative Kraft der sozialen Praktik zur Herstellung schulischer Regeln innerhalb des Klassenzimmers dar. Die Lehrperson verstärkt das Bestreben der Schüler*innen sich zu bewähren und die soziale Praktik des Leisezeichens auszuüben, durch die positive Verstärkung einzelner Schüler*innen im Rahmen der Klassenöffentlichkeit („Danke Victoria, dass du mir hilfst, dass wir mit dem Unterricht anfangen können“) (vgl. Jäger, S. 62 ff.; Budde, 2010, S. 398). Die Aufforderung von Victoria zeigt gleichermaßen eine regelwidrige Umsetzung der Interaktionsregel, da sie während der Ausübung des Leisezeichens spricht und nicht über das Sprecherrecht verfügt. Die Aufforderung wird seitens der Lehrperson nicht als Regelbruch markiert, da der Aufruf von Victoria der Herstellung einer unterrichtlichen Ordnung dienlich erscheint (vgl. Budde, 2011, S. 138). Das Schweigen und Abwarten der Lehrperson, sowie ihre Gestik und Mimik (runzelt die Stirn, presst die Lippen aufeinander und neigt den Kopf etwas zur Seite), markieren das angeregte Gespräch von Jonas und Tom als einen Regelbruch und folglich als Störung. Ebenso stellt das Kippeln mit dem Stuhl von Jonas eine Regelübertretung dar. In der Situation zeigt sich die Existenz verschiedener Interaktionsarten. Dabei gibt es einerseits den offiziellen Code, welcher von der Lehrperson repräsentiert wird und bestimmte Verhaltensnormen und Kommunikationsweisen beinhaltet, also die Ausübung des Leisezeichens unter Beachtung der körperlichen und sprachlichen Einschränkungen. Gleichzeitig existiert der Code der Peerkultur, der sich in den Interaktionen zwischen den Schülern zeigt. Schüler*innen sind in der Lage zwischen den Codes hin- und herzuschalten. Sie agieren und inszenieren ihre Rolle unter Interpretation situativer Bedingungen und der Austestung der Spielräume. Folglich führt erst die direkte ermahnend erscheinende Ansprache von Jonas seitens der Lehrperson dazu, dass der Schüler die Ausübung des Leisezeichens adaptiert. Die Lehrperson entscheidet sich unter Auslegung ihrer eigenen Spielräume für die Regulierung der Situation und gegen eine direkte Sanktionierung. Die Unterbrechung der Interaktionsroutine seitens der Lehrperson geschieht in disziplinierender Absicht und ist von kurzweiliger Dauer. Sie nutzt die Situation, um im Rahmen der Klassenöffentlichkeit mittels einer sprachlichen Intervention, an die Verbindlichkeit der Regel zu Beginn des Unterrichts zu erinnern (… erinnert die Lehrperson die Kinder daran, dass er Unterricht erst beginnen kann, wenn alle Kinder aufmerksam und bereit sind…, wenn alle Kinder das Leisezeichen machen) (vgl. Kalthoff & Kelle, 2000, S. 701; S. 708; Budde, 2011, S. 140 f.). Die Umsetzung der Regel ist folglich ein Aushandlungsprozess, welcher situationsabhängig ist. Es existieren somit keine allgemeingültigen Regeln, die unabhängig von der jeweiligen Situation von den Akteur*innen angewendet werden können. Laut Kalthoff und Kelle (2000) offenbart sich hier die Diskrepanz zwischen Regeln und der differenzierten sozialen Praxis. Die beschriebene Situation verdeutlicht, dass die Ausübung des Leisezeichens zu Beginn des Unterrichts eine verbindliche Regel darstellt, welche die Interaktionen und das Handeln aller Akteur*innen bestimmt. Parallel zeigt sich in der individuellen Ausübung der Praktik, dass diese im schulischen Alltag fortwährend und wiederholt neu ausgelegt und ausgehandelt werden (S. 691 ff.).

4.     Fazit: Diskrepanz zwischen Regeln und der differenzierten sozialen Praxis

Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht die Fragestellung „Wie machen die Akteur*innen Regeln als gemeinsame soziale Praktik bei der Ausübung des Leisezeichens zu Beginn des Unterrichts?“. Der Blick richtet sich dabei auf die Herstellung und Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung zu Beginn des Unterrichts mit Hilfe des Leisezeichens. Die Ausübung des Leisezeichens als gemeinsame soziale Praktik dient der Herstellung von Ordnung, einer Fokussierung von Aufmerksamkeit und der Schaffung einer geordneten Lernumgebung. Es zeigt sich, dass die Kinder über implizites Wissen bezüglich der Bedeutung und Ausübung der Regel verfügen und die Ausübung routiniert in den Schulalltag integrieren. Sie passen ihre eigenen Interaktionen und Interessen an, um eine verbindliche und erwartbare Praxis zu erreichen. Die ethnomethodologische Analyse zeigt, dass die Schaffung und Aufrechterhaltung von sozialer Ordnung im Klassenraum mit gemeinsamen sozialen Praktiken aller Akteur*innen zusammenhängen. In Anbetracht dessen gilt die regelkonforme Ausübung des Leisezeichens als eine anerkannte Voraussetzung für den Beginn des Unterrichts und spiegelt die gemeinschaftliche Übereinkunft zwischen der Lehrperson und den Schüler*innen wider. Die Herstellung einer gemeinsamen Klassenöffentlichkeit, trägt dazu bei die Regeln für den Beginn des Unterrichts zu aktualisieren (vgl. Wiesemann, 2011, S. 172 f.). Kurzzeitige Unterbrechungen der Interaktionsroutine dienen dazu, die Regelhaftigkeit der schulischen Ordnung und unterrichtlicher Ordnung mittels der Ausübung des Leisezeichens zu betonen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Herstellung und Aufrechterhaltung von Regeln im schulischen Kontext eine komplexe soziale Praxis darstellen, welche von den Akteur*innen in situativen Interaktionen ausgehandelt wird. Dabei zeigt sich folglich eine Diskrepanz zwischen den Regeln und der differenzierten sozialen Praxis. Die soziale Ordnung wird dabei durch die die Vielfältigkeit ihrer Handlungen hervorgebracht.

Mögliche anschließende Forschungsschwerpunkte könnten beispielsweise in einer vergleichenden Analyse ähnlicher Praktiken in unterschiedlichen Klassen und Schulen liegen. Dabei gilt es festzustellen, inwiefern diese Praktiken zu einer Herstellung schulischer Ordnung beitragen, sich unterscheiden und welche Faktoren diese beeinflussen. Darüber hinaus wäre es denkbar, die Auswirkungen der Praktiken auf die Lernleistungen der Schüler*innen in den Blick zu nehmen. Das Ziel liegt hier in der Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen der Etablierung und Aufrechterhaltung von Regeln und der Lernleistung.  Die Umsetzung dieser Forschungsschwerpunkte erfordert eine sorgfältige Planung und Durchführung. Sie ist mit einem erheblichen zeitlichen wie auch organisatorischen Aufwand verbunden. Es muss berücksichtigt werden, dass alle Praktiken und Handlungen von den spezifischen situativen Bedingungen und Umständen sowie dem jeweiligen sozialen Kontext beeinflusst werden.

5.     Literaturverzeichnis

Budde, J. (2010). Inszenierte Mitbestimmung?! Soziale und demokratische Kompetenzen im schulischen Alltag. Zeitschrift für Pädagogik, 56 (3), S. 384-401.

Budde, J. (2011). Dabei sein ist alles? Erkenntnispotential ethnographischer Beobachtungen anhand von Interaktionspraktiken zur Verteilung des Rederechts im Unterricht. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 12 (1), S. 125-148.

Jäger, M. (2019). „Ruhigsein ist das Allerwichtigste!“ Die Herstellung einer schulischen Ordnung (Regeln im Schulalltag I). In A. Sieber Egger, G. Unterweger , M. Jäger, M. Kuhn, & J. Hangartner (Hrsg.), Kindheit(en) in formalen, nonformalen und informellen Bildungskontexten. Ethnografische Beiträge aus der Schweiz (S. 45-65). Springer VS.

Kalthoff, H., & Kelle, H. (2000). Pragmatik schulischer Ordnung. Zur Bedeutung von „Regeln“ im Schulalltag. Zeitschrift für Pädagogik, 46, S. 691-710.

Wagner-Willi, M. (2018). Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann, & D. Conversano (Hrsg.), Rituale an Schulen. Wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Verlag LCH.

Wiesemann, J. (2011). Ethnographische Forschung im Kontext Schule. In H. U. Grunder, K. Kansteiner-Schänzlin, & H. Moser (Hrsg.), Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer (S. 167-185). Schneider-Verlag Hohengehren.

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