Der Montagmorgenkreis als Ritual der Grundschule: eine analytische Dimensionierung der Perspektive der Kinder auf Grundlage ethnographischer Beobachtungen im Rahmen des Praxissemesters 

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Einleitung

Cora (etwas leise): Also […], am Samstag sind Tina und Nina zu mir gekommen. Wir sind Rollerskates gefahren. Dann haben wir den Lars gesehen (lacht). Der hat Fußball gespielt. Und dann ist der Lars reingegangen und kam auch mit seinen Rollerskates (lacht, Nina und Tina lachen auch). Wir sind den Berg runtergefahren und dabei sind wir hingefallen (lacht). Um 6 Uhr sind wir nach Hause gefahren. (Heinzel 2016, 43)

Diese anschauliche Erzählung von Cora stammt aus einen Morgenkreis einer vierten Klasse an einem Montagmorgen, den Schüler[1] und Lehrkraft dafür nutzen, sich über die Erlebnisse des vergangenen Wochenendes auszutauschen. Hierzu sitzen die Beteiligten der Situation (Cora, die anderen Schüler und die Lehrkraft) zusammen in einem aus Stühlen gebildeten Kreis vor der Tafel und sind durch Blickkontakt und organisatorische Nähe miteinander verbunden. Eine Zusammenkunft in dieser kreisförmigen Anordnung bildet Verbundenheit, Geschlossenheit und Gemeinschaft – und somit eine gut beobachtbare Bühne, auf welcher Schüler und Lehrkraft sich auf einer Ebene im Rahmen der Institution Schule begegnen können. Durch Vernetzung von Schüler-zu-Schüler-Interaktion und Lehrer-zu-Schüler-Interaktion entsteht hierbei ein komplexes Kommunikationssystem, das für die Schüler zwischen ihrer Peerkultur und dem schulischen System mit seinen Werten und Ordnungen hin- und herpendelt (vgl. ebd. 2016, 7 f.).

Der Montagmorgenkreis, auch Morgenkreis oder Erzählkreis genannt, stellt ein Anfangsritual der rituell in hohem Maße organisierten Grundschule dar, mit welchem das Ziel verfolgt wird, die Kinder für den Schultag vorzubereiten und sie von den außerschulischen, am Wochenende erlebten Familien-, Peer- oder Medienerfahrungen an die innerschulische, unterrichtliche Lernkultur anzunähern (vgl. Wulf 2008, 71; vgl. Heinzel 2016, 9). Zumeist vollziehen sich im Rahmen des Morgenkreises insgesamt 5 Phasen, die unabhängig voneinander koexistieren und je nach Intention auch nicht alle durchlaufen werden müssen:

  • Phase 1: Begrüßung (Feststellung der Anwesenheit, Datumsfeststellung, Aufgabenverteilung)
  • Phase 2: Phase für Aktuelles (Geburtstage, Organisatorisches)
  • Phase 3: Erzählphase (Erzählen von Wochenenderlebnissen, Geschichten oder Witzen, Zeigen von mitgebrachten Gegenständen)
  • Phase 4: Arbeitsphase (Aufgabenvorstellungen, Materialerklärungen)
  • Phase 5: Abschlussphase (Verabschiedung, Vorlesen, stummer Gruß, Auflösung des Kreises) (vgl. Heinzel 2016, 16)

Wenn Cora aus dem auf Seite 1 genannten Beispiel somit also von ihrem Wochenende erzählt, befindet sie sich gerade in der Erzählphase (Phase 3).

Obwohl die Schule mit der eigens vertretenen Demokratiefunktion eine gesellschaftliche Eingliederung für alle Kinder gleichermaßen anstrebt, sich jedoch auch im Widerspruch dazu die Förderung und Orientierung am einzelnen Kind auf die Fahne schreibt, scheint der Morgenkreis einen geeigneten Mittelweg darzustellen: wird der Morgenkreis schwerpunktmäßig für Mitteilungen der Kinder gebraucht und nimmt die Lehrkraft dabei eine Art Moderator-Rolle ein, in der sie relevante Ansprüche der Kinder aufgreift, aber nicht jeden Impuls der Kinder als weiteren Gesprächsanlass nimmt, so kann er durch das hohe Maß an sozialer Kommunikation für einen gleichberechtigten Umgang der verschiedenen beteiligten Akteure und einen Bezug der institutionellen Ordnung zur Ordnung der Kinder herstellen (vgl. Heinzel 2016, 11). Diesem hohen Maß an Kommunikation kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es handelt sich bei dem Montagmorgenkreis nämlich weniger um eine festgelegte Realität, die die Kinder durch Eintritt in den Kreis am Montagmorgen passiv rezipieren, sondern vielmehr um eine soziale und aktive Selbstgestaltung durch die Kinder selbst. Die Kinder als Akteure handeln in ihren Rollen als Schüler und verleihen ihrem Handeln im Kreis in konkreten Situationen und in gegenseitiger Interaktion eine Bedeutung (vgl. ebd. 2016, 9f.). Durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten und wie sie das tun, was sie tun, entsteht und vollstreckt sich der Montagmorgenkreis. Die Akteure sind in hohem Maße daran beteiligt. Mori (2010) postuliert dabei, dass die Kinder sich auch im Rahmen der gemeinsamen Orientierung im Morgenkreis auch in verschiedene Untergruppen einordnen können, wie z.B. den „Lehrer-Anhängern“ oder in bestimmte Jungen- oder Mädchengruppierungen. Auch die Handhabung der Erzählutensilien (z.B. Erzählball o.Ä.) und die eigene Selbstdarstellung der Kinder kann variieren. Neben vielen weiteren Herausforderungen ist die zentrale Herausforderung, die überdauernd auf die Kinder wirkt, die unterrichtliche Rahmung als gegeben und die Lehrkraft als Autoritätsperson zu akzeptieren (vgl. Mori 2010, 129).

Forschungsdesign und Aufbau

In dieser Arbeit soll das Ritual des Montagmorgenkreises aus der Perspektive der Kinder analysiert werden. Im Rahmen meines Praxissemesters konnte ich an zwei Tagen an Montagmorgenkreisen der Klasse 3a einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen teilnehmen und diese ethnographisch beobachten. Im ersten Teil der Arbeit wird in diesem Zusammenhang eine Erläuterung der verwendeten Forschungsmethode erfolgen, um im nächsten Schritt meine Rolle als Praktikant und Forscher in der Klasse und die Reaktionen der Kinder auf meine Anwesenheit darzustellen. Eine Beschreibung der Lern- und Klassenkultur meiner beobachteten Schulklasse schließt den ersten Teil ab.

Anhand von zwei verdichteten Beobachtungsprotokollen zweier Montagmorgenkreise der Klasse 3a, die den zweiten Teil der Arbeit einleiten, wird schlussendlich die Perspektive der Kinder in diesen beobachteten Situationen in Kapitel 4 analytisch in den Blick genommen. Zentrale Leitfragen sind dabei: Vor welchen Herausforderungen stehen die Kinder im Rahmen des Montagmorgenkreises? Welche soziale Ordnung wird hier sichtbar?

Im Fazit werden abschließend die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.

Forschungsmethode: ethnographische Forschung

In dieser Arbeit wurde die Strategie der Ethnographie als Forschungsmethode im Forschungsfeld Schule verwendet. Die Ethnographie als Methode des Kennenlernens und Verstehens fremder sozialer Kulturen und Welten aus Sicht der Einheimischen hat sich in der Soziologie und Ethnologie schon seit Jahrzehnten etabliert. Dabei geht es bis heute forschungsmethodisch um eine teilnehmende Beobachtung in situativen Kontexten dieser fremden und zu untersuchenden Realitäten, die dazu führen soll, die fremde Kultur aus der Perspektive der Angehörigen zu verstehen und zu rekonstruieren (vgl. Breidenstein 2012, 29). So wird Wissen über Lebens- und Handlungsweisen dieser Kulturen generiert, welches für unser Verständnis dienlich ist. Nun ist es aber so, dass uns die Schule als fester Bestandteil unserer Gesellschaft und als Forschungsfeld schon lange nicht mehr fremd ist. Was hat also diese teilnehmende Beobachtung fremder Kulturen an entfernten Orten mit dem uns vertrauten und selbstverständlichen Schulalltag vor unserer Haustür zu tun?

Genau hier liegt der Punkt: im Forschungsfeld Schule hat diese ethnographische Forschung das Ziel, durch gezielte Entfremdung und Beobachtung der alltäglich vertrauten Handlungsroutinen und Traditionen der Schule die Phänomene des Unterrichtes neu zu untersuchen (vgl. Wiesemann 2011, 167 f.; vgl. Heinzel & Wiesemann 2005, 208). Der entscheidende Faktor ist dabei „also die Differenz zwischen Teilnehmer- und Beobachterverstehen.“ (Breidenstein 2012, 30). Im Rahmen von engmaschiger, intensiver und langfristiger Beobachtung werden Mikrostrukturen des sozialen Miteinanders der Schule beleuchtet und es wird untersucht, wie sich Unterricht, Lernen, kindliche Subjektivität, Schüler-Sein, sowie soziale Interaktion und kulturelle Praxen im Unterricht vollziehen (vgl. Wiesemann 2011, 167 f.; vgl. Heinzel & Wiesemann 2005, 208). Durch eigenes Distanzieren aus dem Selbstverständlichen wird die „Schule [wieder] zu einem Entdeckungsfeld und der Unterricht zu einem erforschbaren Interaktionsraum“ (Wiesemann 2011, 167) und neue Zugänge zu gewohnten Praktiken können beispielsweise bei Lehrkräften oder Lehramtsanwärtern für Praxiswissen und für Entwicklung professionellen Lehrerhandelns sorgen (vgl. Lindner & Rosenberger 2019, 63; vgl. Heinzel & Wiesemann, 2005, 209; vgl. Heller & Kotthoff 2020, 21). Unterricht ist ein sozialer Prozess, der durch das ineinandergreifende Interagieren der beteiligten Akteure (Kinder, Lehrkraft, sonstige Schularbeiter) entsteht. Der Montagmorgenkreis als soziale Bühne liefert dadurch ein reichhaltiges Angebot an beobachtbaren und beschreibbaren Prozessen.

Die ethnographische Forschung verläuft dabei anhand drei fundamentaler Leitlinien: die Nutzung der Beobachterrolle, die Verschriftlichung des Beobachteten und die analytische Durchdringung der transkribierten Inhalte (vgl. Breidenstein 2012, 31 ff.). Während es bei ersterem Aspekt um die genaue Beobachtung geht, werden im Prozess der Verschriftlichung diese Beobachtungen in Daten überführt. „Was man in der Situation vielleicht nur intuitiv oder ‚praktisch‘ verstanden hat, trachtet das Protokoll zu verbalisieren“ (Breidenstein 2012, 32). Anhand einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1983, 24 ff.) wird das Beobachtete transkribiert und für Reflexion zugänglich gemacht. Dabei ist unbedingt zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur um ein bloßes Abbilden der Beobachtungen handelt, sondern diesem Prozess der Transkription schon Deutung und Interpretation der Phänomene innewohnen. Das verdichtete Beschreiben der beobachteten Situation erfordert demnach ein hohes Maß an Reflexion des eigenen Verständnisses, um vorschnellen Überinterpretationen und subjektiver Verzerrung vorzubeugen (vgl. Lindner & Rosenberger 2019, 65). Im letzten Schritt, der analytischen Durchdringung, geht es darum, den analytischen Blick zu aktivieren (vgl. Breidenstein 2012, 34). Das Protokoll wird mehrmals beim Lesen auf Irritationen, Auffälligkeiten und Rückfragen überprüft, was zur weitergehenden Reflexion anregt. Der Fokus wird auf das „Wie?“ und „Warum?“ geschärft.

Meine Rolle als Praktikant und Forscher in meiner Praktikumsschule

An dieser Stelle soll eine kurze Charakterisierung meiner Rollen als Praktikant und Beobachter in meiner Praktikumsschule erfolgen. Als Praktikant waren meine Tätigkeiten in der Klasse 3a vielfältig. Zu Beginn des Praktikums hospitierte ich zunächst schwerpunktmäßig im Unterricht der Lehrerkollegen. Daraufhin half ich in Arbeitsphasen den Schülern bei der Aufgabenbearbeitung und übernahm schnell kleinere Unterrichtssequenzen der Lehrkräfte. Auf die Übernahme der Pausenaufsicht folgte schnell die selbstständige Übernahme erster Unterrichtsstunden. Zudem führte ich auch Bewertungen von Schülerleistungen durch und galt als Autoritätsinstanz für die Schüler. Das Zurechtfinden im System Unterricht, das Übernehmen der Praktiken sowie das Sammeln von Erfahrungen für meinen späteren Lehrerberuf stand hier im Vordergrund.

In meiner Rolle als Beobachter waren die Schwerpunkte gänzlich anders gesetzt. Hier ging es mehr um die forschende Auseinandersetzung mit dem Unterricht. Indem ich als Forscher an den Ritualen des Schulalltags aktiv und aufmerksam teilnahm, begab ich mich auf eine Ebene mit den Schülern und begann mich von den Selbstverständlichkeiten der Praktikantenrolle zu lösen. Meine Tätigkeiten dabei waren das intensive und aufmerksame Beobachten schulischer Situationen, das detaillierte Aufschreiben von Beobachtungen und das Erkennen und Reflektieren von Handlungsweisen der beteiligten Akteure.

Die Reaktion der Teilnehmer auf die Etablierung meiner Rolle als Forscher und Praktikant

Als Lehrkraft, die sich gerade noch in der Ausbildung befindet und Erfahrungen im Unterricht sammelt, war die Praktikantenrolle den Kindern der Klasse 3a schon zu Beginn meines Praktikums bekannt. Bereits durch frühere Praxissemesterstudierende, die ein halbes Jahr an der Schule gearbeitet hatten, waren sie von meinen Handlungen und von meinem Verhalten nicht überrascht. Sie nahmen unaufgeregt zur Kenntnis, dass ich regelmäßig im hinteren Teil des Klassenraums saß und hospitierte, die Lehrkraft und die Schüler in den Unterrichts- und Arbeitsphasen unterstützte und auch selbst Unterrichtsversuche vornahm.

Die Etablierung meiner Beobachterrolle im Klassenumfeld der Klasse 3a war konträr dazu nicht ganz so einfach. Breidenstein (2012) spricht davon, dass es wichtig ist, um Zugang zum Forschungsfeld zu erhalten, das Vertrauen aller beteiligten Akteure der Situation zu gewinnen (vgl. Breidenstein 2012, 31). Dazu gehörten in dem Falle die Lehrkraft und alle teilnehmenden Schüler. Nur wenn ich als Beobachter gänzlich im Feld akzeptiert bin und meine Tätigkeiten in dieser Rolle, das stille Beobachten und permanente Schreiben, keine Besonderheiten mehr sind und keine Fragen mehr aufwerfen, habe ich Zugang zur situativen Authentizität der Akteure. Um diesen Zustand zu erreichen, habe ich sowohl mit der Lehrkraft, als auch mit den Schülern am Montagmorgen vor meiner Beobachtung Kontakt aufgenommen und sie über mein Vorhaben aufgeklärt. Der Klassenlehrerin Frau Weber[2] habe ich im Klassenraum zum Zeitpunkt vor Beginn des Unterrichts, als die Kinder noch draußen vor der Schultür gewartet haben, in einem Gespräch erläutert, dass ich gerne für mein anstehendes Studienprojekt soziale Abläufe und Handlungsweisen des Unterrichts im Rahmen von teilnehmender Beobachtung zweier Kreisgespräche in den Blick nehmen möchte. Ich habe ihr bewusst vermittelt, bei meinen Beobachtungen vorrangig das Verhalten der Kinder und weniger ihr Verhalten als Lehrkraft in dieser Situation in den Blick zu nehmen, um sie nicht durch Verunsicherung in ihrem Verhalten zu beeinflussen. Da ich zu diesem Zeitpunkt schon seit ungefähr zwei Monaten an der Schule war und Frau Weber und die Klasse mich als Praktikanten bereits gut kennenlernen konnten, habe ich schnell die Zustimmung von Frau Weber für mein Vorhaben erhalten.

Bei den Schülern bin ich etwas anders verfahren. Diese habe ich erst über mein Vorhaben unterrichtet, als alle Beteiligten schon zum Kreisgespräch versammelt hatten. Dazu habe ich, bevor Frau Weber mit der Begrüßung beginnen wollte, in der Runde das Wort ergriffen und erklärt, dass ich bei diesem Kreisgespräch beobachten wolle, wie der Montagmorgenkreis in der Klasse 3a abläuft. Ich habe dabei bewusst vermieden, konkrete Beobachtungen von Kindern anzusprechen, um kein Kind vor Beginn des Kreisgespräches zu überfordern und zu verunsichern. Ein Kind fragte mich daraufhin, warum ich das denn machen würde – ich entgegnete darauf, dass diese Beobachtungen für mein Studium sehr interessant wären. Bevor Frau Weber wieder das Wort ergriff, ergänzte ich noch, dass sich die Kinder nicht durch mein akribisches Mitschreiben irritieren lassen sollen, da dies nur zum Festhalten der Beobachtungen dienen solle. Die Kinder kennen das Mitschreiben selbst aus dem Unterricht und haben dies auch bei mir als hospitierender Praktikant bereits gesehen, sodass diese Aussage für wenig Verwunderung sorgte. Bis auf einige kritische und fragende Blicke der Kinder zu Beginn des Kreisgespräches und in Phasen, in denen ich besonders schnell und impulsiv Notizen niedergeschrieben habe, gab es keine besonderen Reaktionen auf meine Rolle als Beobachter. Ich wurde mit meinem Verhalten toleriert und konnte intensiv beobachten.

Beim zweiten Beobachtungstermin bin ich analog verfahren. Hier kamen jedoch keine Rückfragen mehr, da die Beteiligten durch das erste Mal schon an meine Beobachterrolle gewöhnt waren. Sowohl Lehrkraft als auch Schüler nahmen dies mit Zustimmung zur Kenntnis, ebenso musste ich mein Vorgehen nicht weiter erklären, weil sie es durch das erste Mal schon kannten. Lediglich nach der Auflösung des Kreises fragte mich ein Junge, ob ich denn nun nach den beiden Beobachtungen „was Interessantes“ herausgefunden hätte, worauf ich ihm mit den Worten „Auf jeden Fall – es war total interessant, euch zuzuhören und zuzuschauen“ antwortete.

Beschreibung der Lernkultur

Die gemachten Beobachtungen entstanden an zwei Montagen im Rahmen von zwei Montagmorgenkreisen einer dritten Klasse einer Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt ist die Klasse 3a durch ein hohes Maß an Heterogenität gekennzeichnet. Die Klasse umfasst eine Anzahl von 19 Schülern, von denen 8 weiblichen und 11 männlichen Geschlechtes sind. Alle Kinder sind zum Zeitpunkt der Beobachtung zwischen 8 und 9 Jahre alt. 6 der 19 Kinder lernen Deutsch als Zweitsprache, 2 Schüler wiederholen die 3. Klasse. Die Klassenlehrerin ist Frau Weber, welche die Klasse seit der Einschulung als Klassenlehrerin bis auf Musik, Sport und Religion in allen Fächern unterrichtet.

Der Schulalltag der Klasse 3a ist durch ein hohes Maß an regelmäßig stattfindenden Ritualen geprägt, welche die Lehrkraft seit der Einschulung in der Klasse etabliert hat. Neben Übergangsritualen, wie bspw. dem Verwenden einer Klangschale, dem Durchführen eines Klatschrhythmus oder dem „Versteinern“ der Kinder, wenn die Geräuschatmosphäre zu laut ist, sind es vor allen Dingen unterrichts- und gemeinschaftsspezifische Makrorituale, wie der Klassenrat, bestimmte Bewegungsspiele, gemeinsame Frühstückszeiten und eben der wöchentliche Montagmorgenkreis, der für die Lern- und Unterrichtskultur kennzeichnend ist. Als transparentes Ritual zur Störungsprophylaxe hängt in der Klasse eine große Ampel aus Pappe, auf welcher jedes Kind mit einem kleinen Bild zu finden ist. Im Fall einer Unterrichtsstörung wird das entsprechende Kind von der grünen Stufe auf die gelbe oder rote Stufe hochgesetzt, was zu Sanktionierungen führen kann. Zudem werden regelmäßig neue Rituale etabliert, wie zum Beispiel das Öffnen von kleinen für die Kinder gebastelten Adventskalender-Geschenktütchen im Plenum in der Adventszeit oder das öffentliche Vorlesen eines Klassenbuches (in meiner Praktikumszeit eine Weihnachtsgeschichte) in der Frühstückspause.

Die Lernkultur der Klasse 3a zeichnet sich durch Subjektorientierung, Kompetenzorientierung und Differenzierung aus. Die Kinder arbeiten an ihr Anforderungsniveau adaptierten Aufgaben, leistungsschwächere und leistungsstärkere Schüler erhalten Differenzierungsmaterial. Frau Weber nutzt regelmäßig verschiedene Methoden und Sozialformen, die an die Vermittlung der Inhalte und Förderung der Kompetenzen angepasst sind. Im Zuge des zu meiner Praktikumszeit grassierenden Coronavirus musste jedoch leider größtenteils auf diese Praxis verzichtet werden und es fand vermehrt Frontalunterricht statt, worunter vor allem der Mathematikunterricht litt.

Generell ist die Lernatmosphäre als wertschätzend und kommunikativ zu beschreiben. In der Klasse herrscht eine intakte Klassengemeinschaft und ein positives Lernklima, was auf die Art und Weise der Klassenführung der Lehrkraft und den Umgang der Kinder untereinander zurückzuführen ist.

Der Montagmorgenkreis findet einmal wöchentlich am Montagmorgen in der ersten Stunde statt. Die Kinder kommen in dem Zuge von ihrem Platz in einer festgelegten Reihenfolge nach vorne und setzen sich auf vorbereitete Bänke. Frau Weber leitet und moderiert das Kreisgespräch, sie wählt zu Beginn ein Kind zum Erzählen aus, welches nach der Erzählung in Form einer Meldekette ein weiteres Kind auswählen darf. Grundsätzlich ist dabei das Ziel, dass jedes Kind, das möchte, vom Wochenende erzählen kann. Dabei achtet Frau Weber auf gleiche Redeanteile. Der Montagmorgenkreis wird in der Klasse 3a in manchen Fällen noch dafür genutzt, organisatorische Aspekte zu besprechen.

Beobachtungsprotokolle

„Die ganze Hose war braun“ (08:14 Uhr)

Es ist Montag. Ich sitze auf einem Stuhl inmitten der Schüler kurz vor Beginn des Montagmorgenkreises der Klasse 3a. Die Schüler sitzen auf kreisförmig angeordneten Bänken. Alle der insgesamt 19 Schüler der Klasse sind anwesend, sie unterhalten sich und warten auf den Beginn des Kreisgespräches. Frau Weber, die Klassenlehrerin der 3a, sitzt ebenfalls auf einem Stuhl mit im Kreis zwischen zwei Bänken. Es ist 08:14 Uhr, als meine erste Beobachtung eines Montagmorgenkreises der Klasse 3a beginnt.

Frau Weber sitzt mit überschlagenden Beinen in der Runde und beäugt die sich unterhaltenden und miteinander agierenden Schüler. Sie zögert einen kleinen Moment, als würde sie auf den geeigneten Moment zwischen den Schülergesprächen warten, um sich dann nach hinten in Richtung Lehrerpult zu strecken und die Klangschale anzuschlagen. Als der helle Ton der Klangschale erklingt, verstummen die Gespräche der Schüler augenblicklich und Frau Weber ergreift nach wenigen Sekunden das Wort: „Wir wollen anfangen. Ich bin ganz gespannt, was ihr vom Wochenende zu berichten habt! […] Wer möchte denn heute mal mit dem Erzählen starten?“ Bis auf 6 Kinder strecken alle anwesenden Kinder ruckartig ihren Finger nach oben. Ich kann hören, dass einige Kinder ihr Aufzeigen mit einem Stöhnen oder Summen untermauern und mit ihrem Finger hektisch in Frau Webers Richtung umherwackeln. Es scheint, als würden sie damit auf sich und ihre Meldung aufmerksam machen wollen. Mir fällt auf, dass Laila, die rechts von mir sitzt, nicht aufzeigt und mit gesenktem Kopf auf den Boden schaut. „Willst du mal starten, Josua?“ „Ja!“, sagt der sich meldende Josua entschlossen. Josua nimmt den Finger herunter, schaut einen kurzen Moment auf den Boden, rutscht etwas auf seinem Stuhl nach hinten und beginnt nach einem vernehmbaren Luftholen mit seiner Erzählung. Die anderen Kinder nehmen ebenfalls den Finger herunter und rutschen etwas auf dem Stuhl nach hinten. Es ist eine kollektive Entspannung zu spüren. Die Kinder fokussieren Josua, manche schneller als andere. „Also, gestern da war ich mit meinem Papa oben bei den Ruinen[3]. Und mein Hund Bello war mit und dann waren wir da bei dem Vogelgehege und die Vögel sind total ausgeflippt. […] Und dann haben wir da noch Julia mit ihren Eltern getroffen.“ In diesem Moment schaut Josua links zu Julia herüber und fängt an, stark zu grinsen. Die anderen Kinder lächeln teilweise und fokussieren Julia ebenfalls. Julia schaut auf den Boden und lächelt etwas. Sie schiebt ihre Hände mit der Handinnenfläche nach unten unter jeweils einen ihrer Oberschenkel und beginnt, mit den Füßen zu wippen. Es wirkt so, als wäre ihr diese Aufmerksamkeit unangenehm, da sie bis zum Weitererzählen Josuas weiter auf den Boden schaut. „Ach, das ist ja witzig!“, sagt Frau Weber mit einem Lächeln und nimmt abwechselnd Luna und Josua in den Blick. „So klein ist die Welt. Konntet ihr denn unsere Schule sehen von da oben?“ „Ne, weil das da etwas geregnet hat […]. Und auf dem Rückweg bin ich dann total ausgerutscht, weil das noch so matschig war von dem ganzen Regen. Und dann war Mama ganz schön sauer, weil ich so dreckig war. Die ganze Hose war braun (lacht).“, sagt Josua daraufhin. Die übrigen Kinder fangen auch an zu lachen. Josua schaut dabei lächelnd und stolz in die Runde und blickt dann erwartungsvoll zu Frau Weber. Es scheint, als wolle er überprüfen, ob seine Erzählung auch bei ihr für Lachen sorgt. Frau Weber entgegnet lächelnd: „Oh Gott, das glaube ich dir!“ und richtet ihren Blick kurz danach mit einer schnellen nach links, wo Phil, Fabian, Anni und Sandra sitzen. Durch das Lachen einiger Kinder und ein Gespräch zwischen Anni und Sandra ist der Geräuschpegel innerhalb des Kreises in kurzer Zeit merkbar angestiegen. Phil, der einige Plätze weiter rechts von mir sitzt, lacht besonders auffällig und laut vernehmbar, indem er mit dem Stuhl nach vorne kippelt und bei jedem Vorlehnen ein pfeifendes Geräusch ausstößt. Frau Weber spricht Phil entschlossen mit seinem Vornamen an und fixiert ihn daraufhin 3 Sekunden mit einem ermahnenden Blick. Phil stellt zügig sein Lachen und das Kippeln ein. Frau Weber spitzt danach ihre Lippen und gibt ein Zischgeräusch von sich, was dazu führt, dass auch die übrigen, teils unruhigen Kinder ihre Gespräche und das Lachen einstellen und Frau Weber wieder aufmerksam anschauen. Es ist wieder ruhiger im Kreis. „Und was hast du Samstag gemacht, Josua?“, fragt Frau Weber. „[…] Da habe ich eigentlich nichts gemacht und habe nur etwas Fernsehen geguckt“, antwortet Josua nach kurzer Überlegungszeit. Während er dies erzählt, schaut er unaufgeregt nach unten auf seine Hände und drückt abwechselnd Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand in die Handinnenfläche seiner linken Hand. Wenige Sekunden vergehen. „Okay. Dann darfst du ein anderes Kind aussuchen, das vom Wochenende erzählen will.“, spricht Frau Weber gut vernehmbar. Josua blickt hoch und schaut in die Runde. Ungefähr 8 Kinder aus dem Plenum zeigen auf und blicken erwartungsvoll zu Josua. Er bewegt seinen Kopf abwechselnd in schnellen Bewegungen von links nach rechts und mustert die aufzeigenden Schüler der Reihe nach. Ich kann erkennen, dass er einige Schüler länger fixiert als andere. Es vergehen circa 8 Sekunden, bis er entschlossen „Lukas!“ sagt und sich wieder laut ausatmend und entspannt zurück in seinen Stuhl lehnt.

„Hä, warum ich? Ich habe doch gar nicht aufgezeigt?“ (08:34 Uhr)

Es ist Montag, 08:34 Uhr. Es handelt sich um die zweite Beobachtung eines Montagmorgenkreises der Klasse 3a. Da bei der oben aufgeführten Beobachtung der Beginn eines Montagmorgenkreises protokolliert wurde, soll an dieser Stelle ein Ausschnitt aus dem bereits laufenden Kreisgespräch dargestellt werden. Die Ausgangslage sieht so aus, dass Onur gerade von Josua als vierter Erzähler auserwählt wurde, und beginnt, von seinem Wochenende zu erzählen. Es sind in diesem Kreisgespräch aufgrund einiger verordneter häuslicher Quarantänen nur insgesamt 12 der sonst 19 Schüler der Klasse 3a anwesend. Ich sitze auf einer Bank inmitten der Schüler. Frau Weber sitzt auf einem Stuhl zwischen zwei Bänken. Meine Beobachtung beginnt.

„Ich war am Wochenende bei meinem Onkel und bei ihm habe ich Playstation gespielt fast den ganzen Tag (lacht).“, erzählt Onur grinsend. Dabei zieht er seine Schultern etwas nach oben und schaut mit seinem Blick lächelnd auf den Fußboden. Es wirkt so, als würde er darum wissen, dass „Playstation spielen“ etwas ist, was er nicht tun sollte und mit dieser Geste zu verstehen geben, dass es ihm aber in diesem Fall egal ist. „Welches Spiel?“, ruft Phil impulsiv einige Plätze weiter rechts von mir in Richtung von Onur. „Mit Oguzhan Fortnite, den ganzen Tag“, entgegnet er ihm direkt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Oha, das zocke ich auch immer! Das [ist] voll geil!“, antwortet Phil laut vernehmbar und schaut mit einem freudigen Blick zu Onur zurück, der Phils Ausruf ebenfalls mit freudigem Nicken zur Kenntnis nimmt. Die beiden scheinen sich in dieser Situation auf einer Ebene zu begegnen. Das Kreisgespräch scheint für einen kurzen Moment nur aus der Konversation zwischen Onur und Phil zu bestehen, bis Frau Weber in den Vordergrund rückt und eingreift, indem sie mit einem deutlich ermahnenden Ton ein „Pscht!“ in Phils Richtung ausstößt. Die Geräuschkulisse im Kreis ist zu diesem Zeitpunkt ruhig, der Großteil der Kinder folgt Onurs Erzählung. Lediglich Luise und Nele sind damit beschäftigt, zusammen an den dunkelbraunen Knöpfen von Neles offenen, rosafarbenen Strickjacke herumzuspielen. Luise stößt dabei mit dem Zeigefinger den oberen Knopf von Neles Jacke an, der locker hin- und herpendelt. Nele schaut dabei grinsend an sich herunter und folgt Luises Fingerbewegungen. Da die beiden zwei Plätze weiter links von Frau Weber sitzen und diese sich mit ihrem Körper Onur zugewandt hat, bleibt das Verhalten von ihnen unbemerkt. Phil nimmt Frau Webers Signal zur Kenntnis, indem er seinen Blick senkt und durch ein Runzeln seiner Stirn und ein Zusammenkneifen der Lippen einen entschuldigenden Blick aufsetzt. „Hast du denn sonst noch etwas Anderes gemacht am Wochenende, Onur?“, fragt Frau Weber und wendet sich wieder Onur zu. Sie stützt sich dabei mit ihrem linken Ellenbogen auf dem linken Knie ihrer überschlagenen Beine ab. „Abends waren wir dann noch Döner essen mit der ganzen Familie“, antwortet Onur. Sein Mund ist dabei leicht geöffnet und er schaut mit erwartungsvollem Blick Frau Weber an „Sehr schön. Das klingt doch nach einem schönen Wochenende! Dann darfst du ein anderes Kind drannehmen, Onur. […] Vielleicht diesmal ein Mädchen.“, sagt Frau Weber wenige Sekunden nach seiner Antwort. Onurs Augen wandern im Kreis schnell hin und her. Es melden sich in der Zeit ausschließlich die beiden Jungen Michael und Mario, die frontal vor ihm sitzen. Es vergehen einige Sekunden. Onur nimmt die Meldungen der beiden zwar optisch wahr, aber schaut sich weiter im Kreis nach einer Meldung eines Mädchens um, indem er seinen Blick wandern lässt. Mit sichtlich irritiertem Blick spricht er daraufhin Nora an. Nora, die sich nicht gemeldet und aufrecht an ihre Stuhllehne gelehnt mit ihren Händen im Schoß am Kreisgespräch partizipiert hat, schaut Onur mit gerunzelter Stirn vorwurfsvoll und verwirrt an und dreht sich in dem Zuge zu Frau Weber nach rechts. Mit den Worten „Hä, warum ich? Ich habe doch gar nicht aufgezeigt?“, richtet sie sich fragend an die Lehrkraft. Onur schaut nun ebenfalls gespannt Frau Weber an. Diese sagt daraufhin zügig: „Ich weiß, Nora. Magst du uns denn vielleicht trotzdem erzählen, was du am Wochenende gemacht hast? Da würde ich mich freuen.“ Nora holt Luft, schaut kurz auf den Boden und presst ihre Hände mit den Handinnenseiten gegeneinander. Beim Ausatmen sagt sie leicht genervt: „Na gut, mache ich“. Wenige Augenblicke später startet sie mit ihrer Erzählung vom Wochenende.

 Analytische Dimensionierung: die Perspektive der Kinder

In der nun folgenden analytischen Durchdringung der in Kapitel 3.1 und 3.2 aufgeführten Beobachtungen soll gezielt die Perspektive der Kinder beleuchtet werden. Hierbei soll vor allem untersucht werden, vor welchen Herausforderungen die Kinder im Rahmen des Montagmorgenkreises stehen. Weitergehend soll analysiert werden, welche sozialen Ordnungen vor dem Hintergrund der angeführten Beobachtungsprotokolle festgestellt können.

In den vorangegangenen Kapiteln wurden Ausschnitte aus zwei Montagmorgenkreisen dargestellt. Im Rahmen der Beobachtungen konnte erkannt werden, dass sich die beiden Kreisgespräche im unterschiedlichen Gesprächsphasen befinden. Während die zweite Beobachtung (Kapitel 3.2) ausschließlich die Erzählphase der Kinder abbildet, da die Kinder hier schon mit ihren Erzählungen in vollem Gange sind, startet die erste Beobachtung (Kapitel 3.1) in der Begrüßungsphase des Kreisgespräches. Dies erkennt man insofern, als dass Frau Weber hier als Moderator eine Einleitung leistet, um den anwesenden Kindern verständlich zu machen, dass nun die Bühne eröffnet ist und sich der erste Akteur freiwillig zum Vorstellen seines Wochenendes melden kann. Frau Weber hat dabei den Auftrag, einen unterrichtlichen Rahmen festzulegen, in welchem die Kinder auf ihre Weise erzählen können, und die Kinder haben die Aufgabe, sich in diesem durch die Lehrkraft und den Unterricht vorgegebenen Rahmen zu entfalten.

Die Freigabe der Bühne stellt für die anwesenden Kinder wohl die größte Herausforderung dar. Die Kinder befinden sich hier in einer Situation, in der sich ihre Peerkultur und ihre Art des selbstständigen, und kindlichen Agierens und Kommunizierens mit der schulischen Kultur mit Regeln und unterrichtlichen Strukturen vermischt. Durch den Auftrag, auf einer schulisch organisierten Bühne mit einem aus gleichaltrigen Akteuren bestehenden Publikum vom Wochenende zu erzählen, welches wiederum vollkommen mit Erfahrungen der persönlichen Peerkultur assoziiert ist, entsteht ein Spannungsverhältnis. Die Kinder, die nicht aufzeigen und erzählen wollen, wie bspw. Laila in Protokoll 3.1 oder (zunächst) Nora in Protokoll 3.2, setzen sich dieser Spannung nicht oder nur ungern aus.

Josua, ist der erste, der die öffentliche Bühne freiwillig betritt. Durch das Zurückrutschen auf seinem Stuhl und das tiefe Luftholen vor seiner Erzählung bereitet er sich auf seinen Vortrag vor. Es laufen in diesem Moment eine Vielzahl von Prozessen in Josua ab. Er steht vor der Herausforderung, zu überlegen, welche Ereignisse des Wochenendes er erzählen will und wie er diese preisgibt, und entscheidet sich dafür, zunächst vom Sonntag zu erzählen. Dies tut er sehr unterhaltsam, indem er mit seinem Satz „die ganze Hose war braun“ die Mehrzahl der Schüler und auch die Lehrkraft zum Lachen bringt. Onur wählt dabei einen anderen Zugang. Bei ihm steht eher die Information im Vordergrund. Diese zwei verschiedenen Herangehensweisen implizieren einen gewissen Spielraum in der Art und Weise, wie im Kreis erzählt werden kann.

Josua steht so lange als selbstbestimmter Akteur im Vordergrund, bis Frau Weber die Bühne betritt und ihn mit der Frage „Und was hast du Samstag gemacht?“ in den unterrichtlichen Rahmen zurückholt, auf welchen er mit seiner Antwort reagiert. Frau Weber reagiert danach wiederum auf seine Reaktion, was einem unterrichtlichen Schema gleicht. Daraufhin erteilt Frau Weber ihm (und auch Onur in Protokoll 3.2) das Recht, den nächsten Erzähler selbst auszuwählen. In dem Zusammenhang bekommt Josua also kurzzeitig die Vollmacht über die Kreismoderation. Nachdem er daraufhin ein nächstes Kind auswählt (Lukas), welches im Anschluss die Bühne betritt, ordnet er sich wieder der unterrichtlichen Ordnung unter und wird Teil des rezipierenden Publikums. Die Tatsache, dass die Auswahl bei ihm einige Sekunden dauert, lässt vermuten, dass ihm die Entscheidung schwerfällt. Auch hier liegt eine Herausforderung für die Kinder, wenn ein Kind ein nächstes Kind anhand von Merkmalen oder innermentalen Kriterien in einer relativ kurzen Zeit auszusuchen hat. Die Herausforderung für Josua (und auch Onur) und auch für alle anderen Kinder abseits der Bühne ist, aufmerksam den Erzählungen der anderen Kinder zuzuhören und den unterrichtlichen Regeln (leise sein, aufmerksam sein, stillsitzen), die im Kreis gelten, zu folgen. Phil, der in beiden Protokollen durch Lachen, Kippeln oder Zwischenrufe auffällt und diese sozial-formierten Regeln missachtet, wird dabei von Frau Weber, die nach wie vor das Geschehen leitet und die Regeln vertritt, zurechtgewiesen. Alle anderen Kinder scheinen um diese nicht vor Beginn der beiden Kreisgespräche kommunizierten Regeln zu wissen und diese akzeptierend einzuhalten. Sie sind somit ritualisiert.

Im Rahmen von Josuas und Onurs Erzählungen lässt sich noch ein weiterer interessanter Aspekt bezüglich der sozialen Ordnung innerhalb des Kreisgespräches feststellen. Josua berichtet im Rahmen seiner Erzählung davon, dass er Julia auf seinem Ausflug getroffen hätte. Indem er Julias Namen als Erzähler nennt und zu ihr schaut, holt er sie automatisch aus dem Hintergrund mit in den Vordergrund der Bühne. Er verknüpft seine Erlebnisse des Ausflugs mit Julia, sodass sich eine gewisse Gemeinschaft zwischen den beiden bildet, da nur sie beide die gleichen Erfahrungen zur gleichen Zeit am gleichen Ort gemacht haben. Dadurch grenzen sie sich von den anderen Kindern ab, die ihr Wochenende anders gestaltet haben. Julia scheint diese Verbindung durch ihr passives Verhalten und das Senken des Blickes etwas unangenehm zu sein. Ähnlich ist es zwischen Onur und Phil. Der Unterschied liegt hierbei jedoch darin, dass die beiden ihre Gemeinsamkeit, nämlich das Spielen eines Spiels auf der Playstation, aktiv und öffentlich auf der Kreisbühne herausfinden und diskutieren. Onur hat mit seiner Erzählung über die Playstation Phils Interesse geweckt, da dieser ebenfalls Zugang zu einem gleichartigen Gerät hat. Indem Phil daraufhin Onur nach dem genauen Spiel fragt, baut er eine Beziehung aufgrund dieser Gemeinsamkeit auf. Als Onur weitergehend mit dem Namen des Spiels antwortet, was Phil zufällig auch besitzt und gerne spielt, vertieft sich diese Beziehung zwischen den beiden und wird durch anerkennendes Lächeln und Nicken beider Seiten bestätigt. Nun gibt es ein gemeinschaftliches Verbindungselement zwischen beiden, nämlich das Spielen des besagten Spiels auf der Playstation.

Ein dazu konträr laufendes Beispiel lässt sich ebenfalls im zweiten Protokoll finden. Onur wählt Nora als nächste Erzählerin aus. Auf das Anraten der Lehrkraft, ein Mädchen zum Erzählen auszuwählen, steht Onur nun vor der Herausforderung, den Wünschen der Lehrkraft gerecht zu werden, obwohl gar kein Mädchen aufzeigt. Für ihn entsteht nun ein Spannungsverhältnis. Die Regel, die Onur hier nun mit der Auswahl von Nora missachtet, ist die Regel, dass nur ein Kind zum Erzählen ausgewählt werden darf, welches auch aufzeigt. Nora hat jedoch nicht aufgezeigt. Sie wird nun in die Erzählerrolle gedrängt, in der sie von sich aus nicht sein wollte (sonst hätte sie aufgezeigt), und wendet sich aufgrund dieses Normbruchs an die Lehrkraft. Indem sie dies mit den Worten „Hä warum ich?“ tut, distanziert sie sich von Onurs Nennung und seinem Vorhaben. Es entsteht Differenz. Erst als die Lehrkraft ihr vermittelt, dass sie ihre Irritation versteht und auf ihrer Seite ist, ist es für sie in Ordnung, trotz des Nicht-Aufzeigens über ihr Wochenende zu erzählen.

Die Tatsache, dass sie ihre Hände nach ihrer Entscheidung des Erzählens zusammenpresst und auch Josua und Onur während des Erzählens bestimmte Bewegungsmuster mit ihren Händen aufweisen, zeugt davon, dass sich die Erzähler ihrer relevanten und besonderen Rolle bewusst sind. Sie versuchen, ihre Aufregung über die die herausgehobene Rolle im Mittelpunkt des Kreisgespräches mithilfe von Handbewegungen zu kanalisieren. Dies unterstreicht die Tatsache, dass die Handbewegungen enden, sobald sie die Rolle des Erzählers ablegen.

Fazit

Im Rahmen dieser Arbeit wurde der Montagmorgenkreis als soziales Ritual in der Grundschule in den Fokus genommen. Im ersten Teil wurde in der Einleitung der Montagmorgenkreis charakterisiert und in seinen Grundzügen, Funktionsweisen und seinem Ablauf vorgestellt. Anschließend folgte eine Präsentation des Forschungsdesigns, in welcher die verwendete Forschungsmethode, meine Rolle als Forscher, die Reaktionen des Feldes auf meine Forscherrolle und die Lernkultur der beobachteten Klasse dargestellt wurden. Den zweiten Teil der Arbeit leiteten zwei dichte Beschreibungen von zwei beobachteten Montagmorgenkreisen an meiner Praktikumsschule ein, die abschließend in Kapitel 4 aus der Perspektive der Kinder auf Herausforderungen und soziale Ordnungen, die möglicherweise im Rahmen der Kreisgespräche erkennbar waren, analysiert wurden. Die wichtigsten Aspekte sollen im nun folgenden Fazit nochmals zusammengefasst werden.

Der Montagmorgenkreis ist ein komplexes, sozial-kommunikatives Ritual des Grundschulunterrichtes. Er zeichnet sich durch verschiedene Phasen aus, die bei der Durchführung in spezifischer Weise durchlaufen werden können (Begrüßungsphase, Phase für Aktuelles, Erzählphase, Arbeitsphase, Abschlussphase) und bietet den Kindern Möglichkeit, in einem kurzen, vorgegebenen Zeitfenster unter der Leitung der Lehrkraft und dem Einhalten von (sozial-) formierten Regeln von ihrem Wochenende zu berichten. Obgleich der Montagmorgenkreis aufgrund von Verbundenheit durch Blickkontakt und Nähe auf einer gemeinsamen Begegnungsebene im Kreis Gemeinschaftsgefühl erzeugt, handelt es sich um eine innerunterrichtliche Bühne, auf der sich das Geschehen in vorgegebenen Bahnen manifestiert – die Kinder sind dabei Akteure und Publikum zugleich.

Die wohl größte Herausforderung für die Kinder ist dabei dieses Spannungsverhältnis zwischen Schulkultur und Peerkultur, zwischen selbstbestimmten und kindlichem Erzählen aus der eigenen Erfahrungswelt und dem Einhalten der schulischen und unterrichtlichen Ordnung (leise sein, aufmerksam sein, stillsitzen, Fragen beantworten). Neben dieser übergeordneten Schwierigkeit sind es viele weitere Aspekte, wie das Aufrechterhalten seiner eigens zugeschriebenen Schüler-Rolle, das innermentale Vorbereiten und Strukturieren des eigenen Vortrages, das Vortragen und Agieren vor dem Publikum selbst, das kompetente Auswählen eines Erzähl-Nachfolgers und das aufmerksame Zuhören der anderen Erzählungen aus der Rolle des partizipierenden Zuhörers, was für die Kinder herausfordernd sein kann. Die Kinder erzeugen Gemeinschaft und Differenz, wenn sie sich in sozialer Interaktion im Rahmen ihrer Erzählungen befinden. Es entstehen hierbei soziale Ordnungen, wenn sie sich aufeinander beziehen, sich aneinander annähern oder sich voneinander distanzieren. Durch die Art und Weise, wie sie sich verhalten und wie sie das tun, was sie tun, wird der Montagmorgenkreis zu einem von den Beteiligten aktiv konstruierten Ritual.

Weitergehend wäre in meinen Augen interessant, zu erforschen, inwieweit sich die sozialen Mechanismen im Kreisgespräch verändern, wenn ein neues, und den übrigen Kindern noch unbekanntes Kind die Bühne des Kreises betritt. In meiner Untersuchung kannten sich die Kinder bereits seit mehreren Jahren untereinander. Da ich in meiner Arbeit nur den Montagmorgenkreis, der primär zum Erzählen vom Wochenende genutzt wird, beleuchten und untersuchen konnte, wäre auch ein Kreisgespräch anlässlich eines Klassenrates oder einer Lernsituation für eine weitere Forschung vorstellbar.

Ich konnte durch meine Beobachtungen wertvolle Einblicke in die Sozialstruktur des Montagmorgenkreises der Klasse 3a meiner Praktikumsschule gewinnen. Ich konnte aus dem Blickwinkel der Kinder verstehen, warum sie sich in bestimmten Situationen so verhalten, wie sie sich verhalten, und welche Intentionen sie damit verfolgen. Durch die ethnographische Entfremdung aus den eigentlich so vertrauten Unterrichtsroutinen konnte ich zudem herausfinden, wie herausfordernd unterrichtliche Praktiken auf die Kinder wirken können und welch hohes Maß an Flexibilität, Belastbarkeit und selbstständiger Organisation sie hinsichtlich dieser regelmäßig unter Beweis stellen. Dies hilft mir, mein Lehrerhandeln zukünftig reflexiv zu überprüfen und verständnisvoller und geduldiger im Umgang mit Kindern im Unterricht zu sein. Denn zukünftige Lehrkräfte sollten bei ethnographischer Forschung im Forschungsfeld Schule das Ziel verfolgen, die eigene Praxis zugunsten einer Entwicklung kompetenten Lehrerhandelns regelmäßig zu überdenken.

Literaturverzeichnis

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Lindner, Doris/Rosenberger, Katharina (2019): Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. In: Journal für LehrerInnenbildung 19 (2019) 4, S. 62-70. Aufgerufen am: 29.03.2021. Verfügbar unter: https://www.pedocs.de/volltexte/2020/18444/pdf/jlb_2019_4_Lindner_Rosenberger_Ethnografisches_Beobachten_und_Schreiben.pdf.

Mori, Midori (2010): Die „Dramaturgie“ im Klassenzimmer. Das Ritual des Morgenreffens und Montagskreises in der japanischen und deutschen Grundschule. Eine qualitative Untersuchung. Münster: Waxmann Verlag.

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Wiesemann, Jutta (2011): Ethnographische Forschung im Kontext der Schule. In: Grunder, Hans-Ulrich/Kansteiner-Schänzlin, Katja/ Moser, Heinz (Hrsg.): Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag. S. 167-185.

Wulf, Christoph (2008): Rituale im Grundschulalter: Performativität, Mimesis und Interkulturalität. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11 (2008) 1, S. 67-83. Aufgerufen am: 29.03.2021. Verfügbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11618-008-0004-8.

[1] Für eine bessere Lesbarkeit umfassen alle Personen- und Berufsbezeichnungen im gesamten Dokument alle Geschlechtsformen.

[2] Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge wurden die beteiligten Personen in den Ausführungen mit Namen versehen. Diese aufgeführten Namen sind im Sinne des Datenschutzes frei erfunden.

[3] Die hier angesprochenen Ruinen sind das Wahrzeichen der Stadt. Diese sind etwas höher an einem Berg gelegen und durch Wanderwege zu erreichen.

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