Welche Rolle nehmen LehrerInnen im Klassenrat ein?

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

 

Keywords: Klassenrat, Kreisgespräch, Rolle der LehrerInnen, Klassenraum

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Aus Sicht der Erziehungswissenschaft gilt es Partizipation und Teilhabe innerhalb der Schule zu ermöglichen (vgl. Bauer 2018, S. 680). Diese Forderungen werden mit der Umsetzung reformpädagogischer Konzepte, zum Beispiel dem Klassenrat, verbunden (vgl. ebd., S. 680). Dabei handelt es sich um ein Treffen der gesamten Lerngruppe, das einmal wöchentlich zu einer abgesprochenen Zeit stattfindet (vgl. Nell-Tuor & Haldimann 2019, S. 74; vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 240). Der Klassenrat ist ein Ort, um über Probleme in der Klasse zu reden und diese gemeinsam zu lösen (vgl. Giese et al. 2004, S. 1). Es werden aktuelle Themen der SchülerInnen besprochen und allgemeine Fragen des Schulalltags ausgehandelt (vgl. Giese et al. 2004, S. 1; vgl. Bauer 2018, S. 680). Den Kindern wird dabei ein größtmöglicher Freiraum ermöglicht, ihre eigenen Angelegenheiten möglichst selbstständig zu klären (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). „Dem Klassenrat wird u.a. die bedeutende Funktion zugewiesen, schulisch-institutionelle Macht abzubauen“ (De Boer 2006, S. 127). Er ist Ort des Demokratie-Lernens und durch ihn können Lernende in verschiedenen Bereichen der Schule mitbestimmen (vgl. De Boer 2006, S 128). Die Umsetzung des Klassenrats geht oft mit einer veränderten Rolle der Lehrkraft einher (vgl. Nell-Tuor & Haldimann 2019, S. 74). Da sich diese Arbeit auf die Lehrerrolle fokussiert, werden die Erwartungen an die Rolle kurz dargelegt. Während die Lehrperson im sonstigen Unterricht die Leitung übernimmt, wird in den Lehrmitteln zum Klassenrat gefordert, die Verantwortung an die SchülerInnen abzugeben (vgl. ebd., S. 74). Sie nimmt also eine zurückhaltende, mit den Kindern gleichgestellte Rolle ein (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10; vgl. Bauer 2018, S. 684f). Zugleich ist sie für die Selbsttätigkeit der SchülerInnen verantwortlich und angehalten, in problematischen Situationen einzugreifen (vgl. De Boer 2006; S. 129; vgl. Bauer 2013, S. 37). Sie befindet sich also in einer Doppelrolle als „normale Teilnehmerin“ und „Spielleiterin“ (vgl. Friedrichs 2004, S. 90 zit. n. Bauer 2018, S. 685). Dadurch hat sie eine Vorbildfunktion, zu der gehört, die besprochenen Regeln im Klassenrat zu befolgen (vgl. Giese et al. 2004, S. 5). Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe die SchülerInnen zu unterstützen (vgl. Giese et al. 2004, S. 5; vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Anhand des Studienprojekts wird untersucht, inwiefern LehrerInnen den theoretischen Ansprüchen in der Realität gerecht werden (können) und wie sie sich tatsächlich im Klassenrat verhalten. Daher lautet die Fragestellung: Welche Rolle nehmen LehrerInnen im Klassenrat ein? Zuerst wird das methodische Vorgehen des Studienprojekts beschrieben, die eigene Rolle reflektiert und die Lernkultur der Klasse veranschaulicht. Darauf folgt eine Auswahl an beobachteten Situationen, die hinsichtlich der Forschungsfrage analysiert werden. Am Ende werden die Ergebnisse der Analyse in einem Fazit zusammengefasst und ein kurzer Ausblick gegeben.  

Mein methodisches Vorgehen

Im Rahmen des Praxissemesters habe ich ein Studienprojekt an meiner zugeordneten Grundschule durchgeführt. Dabei liegt der Fokus auf der ethnographischen Feldforschung mit dem spezifischen Feld des Klassenrats. Darunter wird eine sozialwissenschaftliche Forschungsstrategie verstanden, die sich methodisch auf die teilnehmende Beobachtung fokussiert (vgl. Breidenstein 2012, S. 27). Ursprünglich geht es bei der Ethnographie darum, eine fremde Menschengruppe, die sich durch eine gemeinsame Kultur auszeichnet, zu beschreiben (vgl. ebd., S. 29). Die Ethnographie geht aus der Ethnologie hervor, welche sich bis heute für fremde Kulturen interessiert (vgl. ebd., S. 29). Ethnologische Forschung hat den Anspruch, dass der Forschende selbst in dem zu erforschenden Feld lebt und versucht die (bis zu dem Zeitpunkt) fremde Kultur zu verstehen (vgl. ebd., S. 29).  Nach heutigem Verständnis geht es um die „Befremdung der eigenen Kultur“, bei der ein neuer befremdeter Blick erzeugt und eingenommen wird, um das scheinbar Vertraute mit einer distanzierten, fremden Perspektive zu beobachten (vgl. ebd., S. 30). „Ethnographisches Beobachten“ ist hier davon gekennzeichnet den Klassenrat als „fremde Kultur“ zu sehen, um Neues zu entdecken (vgl. ebd., S. 30). Während der Beobachtungszeit habe ich mir stichwortartig Notizen gemacht (vgl. Ruhr-Universität Bochum Methodenzentrum). Im Anschluss habe ich die Stichworte geordnet und ergänzt, um diese dann zu Beobachtungsprotokollen auszuformulieren (vgl. ebd.). Das Beobachtete zu versprachlichen, stellt eine wesentliche Aufgabe ethnographischer Forschung dar, wodurch eine Analyse und Reflexion ermöglicht wird (vgl. Hirschauer 2001 zit. n. Breidenstein 2012, S. 32). Dabei habe ich versucht die Gesamtsituation detailliert festzuhalten, um im Nachhinein zentrale Ereignisse, Personen, Objekte und Aktivitäten herauszuarbeiten (vgl. Breidenstein 2020, S. 103). Ich habe mich entschieden, den Klassenrat zweier Lerngruppen zu beobachten und miteinander zu vergleichen. Ein Vergleich bietet sich hier an, da es sich, trotz unterschiedlicher Klassen und LehrerInnen, um das gleiche Klassenteam handelt, wodurch sich die Uhrzeit, der Tag und die Struktur des Klassenrats nicht unterscheidet. Zunächst ging es darum, im Feld anzukommen, teilzunehmen und das soziale Konstrukt zu verstehen (vgl. Ruhr-Universität Bochum Methodenzentrum). In der Beobachtungsphase bestand die Aufgabe darin, das Handeln der AkteurInnen zu beobachten, zu beschreiben und nachzuvollziehen (vgl. ebd.). Anschließend erfolgen die Analyse und der Vergleich der gewonnenen Daten, um Irritationen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter Berücksichtigung der Fragestellung zu entdecken. Dabei wird Schritt für Schritt vorgegangen (vgl. Breidenstein 2012, S. 36). Es werden jedoch nicht alle Einzelheiten des Protokolls in den Blick genommen, sondern lediglich die für die Beantwortung meiner Forschungsfrage relevanten Situationen. Die Ergebnisse der Analyse werden dann in einem Fazit zusammengefasst.

Reflexion

Meine Rolle im Feld als Forscher

Während des Praxissemesters fand ein ständiger Wechsel zwischen den Rollen als Forscher, Lehrer und Praktikant statt. Durch die teilnehmende Beobachtung partizipierte ich am Unterrichtsgeschehen, habe mich aber bewusst vom Unterricht selbst distanziert, um mich auf das Beobachten fokussieren zu können. Diese Distanzierung kann als Gegenteil zu meiner bisherigen Rolle angesehen werden, da diese grundsätzlich von Hilfestellungen, Austausch mit den SchülerInnen und dem Unterrichten geprägt war. Größtenteils ging ich in der Klasse herum, um schnellstmöglich einem Kind bei Fragen helfen zu können. Meinen Sitzplatz hatte ich am „Lehrertisch“, an dem alle MitarbeiterInnen saßen. Während meines eigenen Unterrichts hielt ich mich die meiste Zeit vor der Tafel auf und bewegte mich im Klassenraum, um die SchülerInnen zu unterstützen. Daher habe ich beschlossen bei den Beobachtungen hinter dem Sitzkreis zu sitzen, da dort der Klassenrat abgehalten wurde und ich so einen guten Blick auf das Geschehen hatte. Zudem war den AkteurInnen so klar, dass ich mich während den Beobachtungsphasen in der Rolle als Forscher befinde und in diesem Moment nicht für sie verfügbar bin. In der Regel hat vor mir die Lehrkraft gesessen, sodass ich ihr Verhalten gut beobachten konnte. Nach dem Klassenrat fand regelmäßig ein Teammeeting statt, wodurch der Raum besetzt war. Aus diesem Grund habe ich mich für die Überarbeitung meiner Notizen ins Lehrerzimmer zurückgezogen. Gelegentlich erfolgte die Verdichtung erst abends am Schreibtisch, da meine Anwesenheit in den Besprechungen erwünscht war. Zum Zeitpunkt der ersten Beobachtung war ich bereits über zwei Monate in der Klasse, hatte Vertrauen zu den SchülerInnen aufgebaut und fühlte mich wohl damit zu unterrichten. Der Ablauf und die Regeln des Klassenrats waren mir bekannt, da ich ihn seit Beginn des Praxissemesters miterlebt habe. Beobachtet habe ich bereits in den ersten Praxissemesterwochen, da ich die neuen, fremden Abläufe verstehen wollte. Größtenteils habe ich mich dabei auf das Lehrerhandeln, den Umgang mit schwierigen Situationen als auch Ideen für eigene Unterrichtsstunden konzentriert. Neu war es für mich den Klassenrat zu beobachten. Das hektische Geschehen und die ununterbrochene, schnelle Interaktion waren zunächst gewöhnungsbedürftig. Erstmal musste ich herausfinden, wie ich dieses Kreisgespräch bestmöglich beobachten kann. Ich habe mich dann entschieden insbesondere auf das Lehrerhandeln zu achten. Nach der Fokussierung funktionierte das Beobachten sehr gut, dennoch war es herausfordernd möglichst viele Details zu erfassen. Während der Beobachtungsphase akzeptierten alle AkteurInnen, dass ich in diesem Zeitraum nicht verfügbar bin. Dadurch, dass meine Beobachtungen in größeren Zeitabständen erledigt wurden, war der Rollenwechsel zwischen Ethnographen und Praxissemesterstudenten seitens der AkteurInnen unproblematisch. Für mich selbst war dieser teilweise unangenehm, da ich meiner Klasse nicht helfen konnte. Die Einnahme verschiedener Rollen war mit Stress und Verwirrung verbunden, da für jeden Bereich unterschiedliche Aufgaben anstanden. Die zweite Beobachtung habe ich in einer weiteren mir bekannten Klasse durchgeführt, welche demselben Klassenteam angehört. Da ich die Lerngruppe lediglich unterrichtet und begleitet habe, kannten die Kinder mich nur in der Rolle als Lehrer bzw. Lernbegleiter. Den LehrerInnen war jedoch mein Studienprojekt bekannt. Die Kinder wussten also nichts von meiner Beobachtungsaufgabe. Vor der anstehenden Beobachtung war es jedoch möglich, den Kindern zu erklären, was ich in der Klasse tun werde. Meinen Sitzplatz konnte ich frei wählen, da der Klassenrat im Sitzkreis stattfand. Ich saß an einem Gruppentisch direkt neben dem Bänkekreis, sodass ich gut auf die Klassenratssitzung blicken konnte. Diesmal konnte ich die Lehrkraft besser sehen, da diese mir schräg gegenübersaß und ich ihr ins Gesicht schauen konnte. Die zweite Beobachtung erschien mir angenehmer, da ich dem Gespräch besser folgen, fokussierter Notizen machen und viele Details festhalten konnte. Aufgrund der Hektik ist es dennoch anstrengend, schnell und effektiv zu protokollieren.

 

Reaktionen des „Feldes“ auf meine Anwesenheit als Forscher

Da mich beide Klassen seit mehreren Monaten kennen, sowohl als Praktikant, der den Unterricht begleitet und bei Fragen zur Verfügung steht, als auch als Lehrer, der viele Unterrichtsstunden verschiedener Fächer übernommen hat, haben wir ein vertrautes Verhältnis. Meine zugewiesene Klasse ist sogar daran gewöhnt, dass ich gelegentlich Beobachtungen anfertigen muss. Gelegentlich sind einzelne SchülerInnen auf mich zugekommen und haben mich gefragt, was ich aufschreibe. Ich habe ihnen erklärt, dass ich eine Aufgabe für die Universität erledigen muss. Diese Erklärung reichte ihnen aus und seitdem wurde mein Beobachten nicht mehr hinterfragt. Alle MitarbeiterInnen haben mein Beobachtungsverhalten von Beginn an hingenommen. Hingegen wurde die Bearbeitung meiner Notizen im Anschluss an den Klassenrat nicht toleriert. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden die Notizen meiner zweiten Beobachtung zu Hause zu überarbeiten. Zu der anderen Klasse bestand auch ein vertrautes Verhältnis, jedoch eher in der Rolle als Lehrer und Praktikant. Da ich dort nicht regelmäßig unterrichtet habe, war meine Anwesenheit für die Kinder eine besondere Situation. Dies hat sich darin gezeigt, dass mehrere Kinder auf mich zugekommen sind, um herauszufinden, was ich aufschreibe. Zudem hatten sie Angst, dass ich ein „schlechtes Verhalten“ notiere. Daraufhin habe ich erläutert, dass ich lediglich eine Aufgabe für die Universität erledigen muss und es mir nicht um das Verhalten der Kinder geht, sondern um das der Lehrerin. Danach schienen die Kinder beruhigt und haben auch nicht weiter nachgefragt.

 

Beschreibung der Lernkultur der Klasse

Mein Praxissemester habe ich an einer Grundschule in NRW verbracht. Es gibt sieben jahrgangsgemischte Lerngruppen, in denen Kinder vom ersten bis vierten Schuljahr zusammenlernen (vgl. Schulhomepage). Besonders hervorzuheben sind die demokratischen Strukturen mit Klassenrat und Schülerparlament, die an der Schule praktiziert werden (vgl. ebd.). Die meiste Zeit meines Praxissemesters habe ich in der mir zugeordneten Klasse verbracht, weil die Klassenlehrerin meine Mentorin war. Dort habe ich auch meine erste Beobachtung durchgeführt. In der Klasse befinden sich 11 Mädchen, 14 Jungen, zwei Klassenlehrerinnen und zwei Integrationskräfte. Ein Großteil der SchülerInnen besitzt einen Migrationshintergrund (vgl. Schulhomepage). In meinen Unterrichtsstunden habe ich einen wertschätzenden Umgang erfahren und es sind kaum Probleme aufgetreten. Gelegentlich war es etwas unruhig, dies ließ sich aber schnell beheben. Die Lerngruppe hat mich von Anfang an als Lehrkraft akzeptiert und mich sehr freundlich aufgenommen. Ich hatte auch den Eindruck, dass sie sich immer auf meinen Unterricht gefreut haben. Es handelt sich um eine neugierige, lernwillige Klasse, die sich schnell begeistern lässt. Dies lässt sich an einer hohen Unterrichtsbeteiligung festmachen. Der Klassenraum ist groß und verfügt über eine einseitige Fensterfront mit Blick auf den Schulhof. In der linken Ecke davor ist ein Gruppentisch, neben dem ein offenes Regal mit Unterrichtsmaterialien und ein geschlossener „Lehrerschrank“ zu finden sind.  An der Fensterfront entlang stehen zwei weitere Einzeltische. Beim Eingang gibt es ein „Lernbüro“, wo sich die Kinder an Schreibutensilien bedienen können. Dahinter befinden sich ein Einzeltisch und ein großer Gruppentisch. In der Mitte des Raumes sind ein Einzeltisch und ein Vierer-Gruppentisch zu sehen. Im vorderen Bereich des Raumes hängt eine große Tafel, vor der ein großer Sitzkreis mit fünf Bänken verortet ist. Die LehrerInnen haben ihren Arbeitsplatz neben dem Sitzkreis. Daneben gibt es einen weiteren Einzeltisch und ein mit Material befülltes Holzregal. In der Nähe des Regales führt eine Tür zu einem Nebenraum mit weiteren Arbeitsmöglichkeiten. An der von der Tafel aus gegenüberliegender Wand stellt ein großer Schiebetürenschrank vielfältige Unterrichtsmaterialien und Aufbewahrungsfächer bereit. Insgesamt ist der Klassenraum geordnet, aufgeräumt und bunt eingerichtet. Der Sitzkreis ermöglicht einen Ort für gemeinsamen Austausch. Jedes Kind hat aber auch die Möglichkeit sich an seinen Arbeitsplatz zurückzuziehen. Die andere Lerngruppe gehört dem gleichen Klassenteam an. Hierbei handelt es sich ebenfalls um eine jahrgangsgemischte Lerngruppe mit mehreren Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Auch diese Klasse wird von zwei KlassenlehrerInnen geleitet und von zwei IntegrationshelferInnen unterstützt. Grundsätzlich ist die Klasse sehr diskussionsfreudig, beteiligungsfreudig und lebhaft. Auch diese Klasse hat mich von Anfang an positiv aufgenommen und freut sich immer über mein Dasein. Der Klassenraum ist ähnlich aufgebaut, jedoch ist der Raum etwas kleiner und wirkt dadurch überfüllt. Hier wurde ebenfalls darauf geachtet, dass es sowohl individuelle Arbeitsplätze als auch einen durch den Sitzkreis entstehenden, gemeinsamen Ort gibt.  

 

Klassenrat

Der Klassenrat findet regelmäßig mittwochs in der fünften Stunde statt und dauert 45 Minuten. Während der Sitzung sind mindestens eine Lehrkraft und Integrationskräfte anwesend. Zu Beginn finden sich alle TeilnehmerInnen im Sitzkreis ein. Der bzw. die Vorsitzende (PräsidentIn) begrüßt die Gruppe und verteilt die verschiedenen Funktionen (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 250). Folgende Rollen können übernommen werden: BeobachterIn, ZeitwächterIn und SchreiberIn (vgl. ebd., S. 250). Der bzw. die BeobachterIn ist für die Einhaltung eines respektvollen Umgangs miteinander zuständig (vgl. ebd., S. 251). Die Zeitwächterrolle umfasst das Beachten zeitlicher Grenzen, zum Beispiel das Ende der Sitzung (vgl. ebd., S. 251). Für einen schriftlichen Bericht über den Klassenrat sorgt der bzw. die ProtokollantIn (vgl. ebd., S. 251). Im Klassenrat können alle Funktionen von allen SchülerInnen abwechselnd übernommen werden (vgl. ebd., S. 250). Die Übernahme der Gesprächsleitung erfolgt nach Klassenliste. Der bzw. die PräsidentIn eröffnet den Klassenrat, indem er alle begrüßt und das Datum, den Tag und die Uhrzeit bestimmt. Danach wird das Protokoll des Kinderparlaments vorgelesen, zu dem Fragen gestellt und wichtige Informationen herausgearbeitet werden können. Gelegentlich gibt es auch einen Auftrag. In der Regel handelt es sich um einen neuen Vorschlag, der im Klassenrat diskutiert und abgestimmt werden soll. Anschließend trägt der bzw. die SchreiberIn das Protokoll der letzten Klassenrat-Sitzung vor. Es ist möglich, dass ein Thema im letzten Kreisgespräch noch nicht beendet wurde, was in der aktuellen Sitzung nun erledigt werden muss. Danach entscheidet der bzw. die Vorsitzende, ob der Schultag, beispielsweise durch eine „Ich-finde-gut-Runde“, reflektiert werden soll. In den Klassen hängt ein buntes Plakat, an das SchülerInnen und LehrerInnen aktuelle Themen, Probleme oder Anliegen befestigen können. Der bzw. die PräsidentIn hängt den Zettel ab und übergibt diesen der Person, die den „Antrag“ verschriftlicht hat. Der bzw. die AntragstellerIn stellt ihren Vorschlag im Klassenrat vor. Die anderen TeilnehmerInnen haben jetzt die Möglichkeit Fragen zu stellen. Danach dürfen alle Anwesenden über das Thema diskutieren. Dabei erteilt der bzw. die Leitende das Rederecht. Am Ende der Diskussion wird das weitere Vorgehen beschlossen. Möglich ist beispielsweise eine Abstimmung. Ist genügend Zeit vorhanden, kann ein weiterer Antrag gestellt werden. Abschließend liest der bzw. die ProtokollantIn das Protokoll des Klassenrats vor und der Klassenrat wird von dem bzw. der leitenden SchülerIn geschlossen.

 

Ausgewählte (dichte) Beschreibungen schulischer Situationen und Analytische Dimensionierung

Erste Beobachtung

Die erste Beobachtung fand in dem Klassenraum der mir zugewiesenen Lerngruppe statt und umfasst die gesamte Klassenrat-Sitzung von 45 Minuten. Für die Beantwortung der Fragestellung werden relevante Situationen aus dem gesamten Beobachtungsprotokoll ausgewählt und analysiert.

„Schreiber ist ein Lehrer“

Max: „Schreiber ist ein Lehrer!“

Leo: „Ich möchte Beobachter sein!“

Lehrerin: „Wir verteilen erstmal die Rollen.“

Jonas: „Der Klassenrat bei den Dinos“

Lehrerin: „So, du wirst jetzt leise.“

Jonas: „Der Klassenrat bei den Dinos. Ich eröffne den Klassenrat am 23.11. um 12:07 Uhr. Wer möchte Beobachter sein?“

Mehrere Kinder strecken ihre Arme mit ihrem Zeigefinger nach oben und schauen Jonas mit aufgerissenen Augen und offenen Mund an.

Mehrere Kinder schreien: „Jonas! Jonas! Jonas!“

Jonas: „Arne. Wer ist Schreiber?“

Jonas erhebt seinen Kopf und schaut entlang der im Kreis sitzenden Kinder. Mehrere Kinder strecken ihre Arme mit ihrem Zeigefinger in die Luft. Manche Kinder stehen von der Bank auf.

Jonas: „Oh.“

Er hebt seine rechte Hand und legt sie auf sein Gesicht. Sein Kopf kippt etwas nach vorn. Er legt seine rechte Hand wieder auf seinen Schoß. Er lächelt.

 

Für den Schüler Max ist klar, dass die Lehrkraft das Protokollschreiben übernimmt. Da niemand auf diese Aussage reagiert, ist für alle TeilnehmerInnen eindeutig, dass die Lehrerin diese Rolle einnimmt. Leo, ein weiterer Schüler, äußert lediglich den Wunsch, Beobachter zu sein. Er widerspricht Max Behauptung nicht, sondern möchte lediglich eine andere Aufgabe im Klassenrat übernehmen. Fraglich bleibt, ob er von Beginn an „Beobachter“ sein will oder ob er vorschlägt diese Rolle einzunehmen, weil die Schreiberrolle schon an die Lehrkraft vergeben ist. Grundsätzlich kann der bzw. die ProtokollantIn von den SchülerInnen selbst gewählt werden oder ein Kind übernimmt freiwillig diese Aufgabe (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 251). Dies geht auch aus dem Verhalten des Präsidenten, Jonas, hervor, da er fragt, wer der Schreiber ist. Ihm fällt jedoch ein, dass diese Rolle bereits der Lehrerin zugeordnet wurde. Eigentlich ist es seine Aufgabe zu entscheiden, wer diese Funktion übernimmt (vgl. Kap. 4.1). Das Recht ein Kind für diese Rolle zu bestimmen, hat er also nicht in Anspruch genommen. Fraglich bleibt, ob er der Lehrkraft die Schreiberrolle zugeteilt hätte oder, ob er lediglich auf das Auswählen einer anderen Person verzichtet hat, weil die Lehrkraft die Rolle bereits besitzt. Möglicherweise tut er dies nicht, weil „Die Kinder wissen, dass es wichtig ist, dass die Lehrerin positiv über sie denkt. Sie haben für sich eine Praktik entwickelt, wie sie mit der Lehrerin umgehen, damit diese sie vorteilhaft wahrnehmen kann“ (De Boer 2008, S. 134). Dadurch kann die Lehrkraft nicht als Gleichgestellte betrachtet werden, da die Lehrkraft aufgrund ihrer Person bereits eine andere Position in den Augen der Kinder einnimmt (vgl. De Boer 2008, S. 129). Die Lehrerin strukturiert und organisiert den Klassenrat, indem sie fordert, dass zunächst die Rollen im Klassenrat verteilt werden. „Allerdings obliegt die Leitung des Klassenrates nicht der Lehrkraft, sondern einzelnen Schüler*innen, so dass sich auch Lehrpersonen an die vereinbarten Gesprächsregeln halten und sich zum Beispiel melden müssen, wenn sie sich an der Diskussion beteiligen möchten“ (Busch & Otto 2019, S. 10). Sie verhält sich also nicht lediglich als Beraterin, sondern übernimmt organisatorische Aufgaben des leitenden Schülers, Jonas (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 251). Des Weiteren entscheidet die Lehrerin, dass die Kinder sich während des Klassenrats leise verhalten sollen. Mit dieser Zurechtweisung tritt sie in ihrer Autorität als Lehrerin auf und zeigt, dass sie über die Einhaltung von Ruhe während der Sitzung wacht (vgl. De Boer 2006, S. 67). Sie unterbricht den Präsidenten, der gerade den Klassenrat eröffnen möchte, was ebenfalls auf ein autoritäres und dominantes Verhalten hinweist.

 

Das KiPa-Protokoll

Jonas: „Wer liest das KiPa-Protokoll?“

Lehrerin: „Das mache ich, weil das ziemlich lang ist.“

Die Lehrerin liest vor.

Lehrerin: „Achtung! Jetzt kommt der Vorschlag: Es soll einen Tauschtag einmal die Woche beim Pokémon-Club geben. Tauschzeit ist in der Pause. Nur im Pokémon-Club wird getauscht. Der Pokémon-Club findet am Nachmittag statt.“

Jonas: „Gibt es Fragen zum KiPa-Protokoll?“

[…]

Jonas: „Was ist wichtig für die Dinos?“

Anna: „Es gibt einen Tauschtag.“

Lehrerin: „Wann ist der Tauschtag?“

Leon: „Am Freitag.“

[…]

Lehrerin: „Wichtig ist, dass du deine Sammelmappe oder Brotdose beschriftest. Macht ihr das alleine? Wer ist noch da?“

Lisa: „Lehrer, damit sie helfen können.“

 

Nach Dinkmeyer Sr. et al. (2019) gibt es drei Grundfunktionen des Klassenrats: Planen, Probleme lösen und Ermutigen. In dieser Situation ist vor allem die dritte Grundfunktion, die Ermutigung, von Relevanz, welche die Basis aller Treffen des Klassenrats darstellt (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 243). Indem den SchülerInnen Vertrauen geschenkt wird, kann ihnen bei der Entwicklung von Selbstvertrauen geholfen werden (vgl. ebd., S. 243). An dieser Stelle bewirkt die Lehrkraft jedoch das Gegenteil, indem sie den Kindern das Vorlesen abnimmt. Sie begründet dies mit der Länge des Protokolls. Eventuell hat die Lehrerin Bedenken bezüglich der Vorlesedauer, weil die gesamte Sitzung zeitlich beschränkt ist (vgl. Hauser & Haldimann 2018, S. 132f). Die erfolgreiche Durchführung des Klassenrats erfordert jedoch unseren vollen Einsatz, Vertrauen und Geduld in die SchülerInnen (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244). Zum einen traut die Lehrkraft ihren SchülerInnen das Vorlesen nicht zu und behandelt sie dadurch nicht als gleichwertige TeilnehmerInnen (vgl. ebd., S. 244). Zum anderen kann eine vollständige Gleichberechtigung nie erreicht werden, da die Lehrpersonen aufgrund ihres Amtes Verantwortung trägt und im Notfall eingreifen muss, wenn ethisch nicht vertretbare Entscheidungen getroffen werden (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Dies bedeutet jedoch nicht, dass bei jeder „Kleinigkeit“ sofort eingeschritten werden muss (vgl. ebd., S. 10). Ein Protokoll vorzutragen ist jedoch keine Notsituation, sondern die Lehrerin liest dieses vor, weil der Text in ihren Augen für die SchülerInnen zu umfassend ist. Grundsätzlich kann dieser Bericht von allen TeilnehmerInnen des Klassenrats vorgelesen werden. Die Lehrerin nimmt den SchülerInnen die freie Wahl ab, indem sie bereits beschlossen hat, es vorzulesen. Die Kinder nehmen ihre Entscheidung hin, was ein dominantes Lehrerhandeln unterstreicht (vgl. Bauer 2013, S. 50). Eventuell traut die Klasse sich nicht, ihre Freiheiten einzuberufen, weil die Lehrerin bereits eine Entscheidung getroffen hat. Vielleicht waren die Kinder auch nicht daran interessiert, die neuen Informationen mitzuteilen. Darauffolgend ist erkennbar, dass die Lehrerin nicht einfach vorliest, sondern wichtige Stellen für die Kinder markiert. Sie arbeitet wichtige Informationen, zum Beispiel den neuen Vorschlag für den Umgang mit Pokémonkarten, aus dem Protokoll heraus und erfordert die Aufmerksamkeit der SchülerInnen. Da sie möchte, dass die Kinder ihr zuhören, steht sie im Mittelpunkt. Nach dem Lehrervortrag übernimmt Jonas wieder die Leitung. Er fragt seine MitschülerInnen, ob sie Fragen zu dem Protokoll stellen möchten und welche Informationen für die Klasse bedeutsam sind. Anschließend fragt die Lehrerin ohne Absprache mit dem Präsidenten, wann der Tauschtag stattfindet. Eventuell überprüft sie mit dieser Fragestellung, ob die SchülerInnen aufgepasst oder auch die neuen Informationen verstanden haben. Sie könnte auch sichergehen, dass alle Kinder den neuen Beschluss wahrgenommen haben. Allerdings positioniert sie sich über den leitenden SchülerInnen, da sie während des Klassenrats ohne Absprache Fragen stellt. Außerdem wurde bereits geklärt, welche Aspekte aus dem Protokoll für die Klasse wichtig sind. Aus Sicht der Lehrerin scheint es jedoch von Bedeutung zu sein, erneut zu besprechen, wann der Tauschtag ist. Indem sie diese Frage stellt, erwartet sie auch eine Antwort. Diese Szene spiegelt ein typisches Frage-Antwort-Gespräch im Unterricht wider, in dem die Lehrperson als auch die SchülerInnen eine durch den institutionellen Rahmen zugeschriebene Rolle besitzen: Die Lehrkraft agiert als steuernde Instanz und die SchülerInnen sind die dem Unterricht folgende Akteure (vgl. Nell-Tuor & Haldimann 2019, S. 77). Obwohl die Kinder lediglich den Tauschtag an sich als wichtig erachten, greift die Lehrerin einen in ihren Augen wichtigen Aspekt auf: die Beschriftung der Sammelmappe. Die Aussage der Lehrkraft könnte als Ergänzung, Tipp, aber gleichzeitig auch als Infragestellung, Korrektur oder auch Belehrung betrachtet werden (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244). Sie bringt erneut eine aus ihrer Sicht bedeutsame Information ein, ohne dies mit den leitenden SchülerInnen abzusprechen. Dadurch nimmt sie eine „Sonderrolle“ ein, für die anscheinend andere, eigenmächtige Regeln gelten (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244; vgl. Bauer 2018, S. 685). Der Klassenrat wirkt so als eine lehrerzentrierte Veranstaltung, bei der die Ansichten der SchülerInnen in den Hintergrund geraten (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244). Eine grundlegende Wertschätzung des Klassenrats ist unabdingbar, wodurch sich Lernende in ihren Anliegen ernstgenommen fühlen (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Die dominante, belehrende und sich in den Vordergrund stellende Verhaltensweise der Lehrkraft bewirkt jedoch das Gegenteil. Die Aussagen der Lehrkraft haben Priorität, wodurch die Interessen der SchülerInnen zweitrangig sind (vgl. ebd., S. 10).

 

„Wir müssen mal abstimmen.“

Mark: „Wir müssen dieses Anliegen machen. Das hat Frau Hocker.“

Die Lehrerin faltet ein kleines grünes Papier auseinander.  

Lehrerin: „Das sieht nach Erwachsenenschrift aus. Fußballturnier für die ganze Schule.“

Die Lehrerin erhebt ihren Kopf.

Jonas: „Du darfst jetzt deine Meinung sagen.“

[…]

Jonas: „Ich bin dagegen, weil ich Fußball nicht so gerne mag.“

Karla: „Ich bin dagegen, weil manche Kinder feste schießen. Es wäre eine Idee mit der Klasse, aber für die ganze Schule?“

Anna: „Ich bin dagegen, weil man sich dann weh tut und weil man dann vielleicht enttäuscht ist, wenn man es nicht so gut kann.“

Integrationshelferin: „Muss denn jeder mitspielen oder nur die, die möchten? Und die anderen feuern an?“

Erik: „Ich bin dafür, weil Fußball macht Spaß. Ich bin dafür, weil es halt Spaß macht und ich Fußball spielen kann.“

Lara: „Ich bin dagegen, weil man sich verletzen kann. Mein Bruder war auch im Verein und hatte offene Knie-e.“

Jakob: „Ich bin dafür, weil es Spaß macht.“

Arne: „Ich bin dagegen, weil es weh tut, wenn man den Ball gegen den Kopf kriegt.“

Rafael: „Ich bin dafür, weil es Spaß macht und man Tore schießen kann. Man bekommt oft einen Ball gegen den Kopf. Das ist normal.“

Lehrerin: „Wer ist dafür? Wir müssen mal abstimmen.“

Mehrere Kinder stehen auf.

Lehrerin: „1,2,3,4,5. Ok, weiter!“

Die Kinder setzen sich wieder auf ihre Bank.

Lehrerin: „Wer ist dagegen?“

Mehrere Kinder stehen auf.

Lehrerin: „1,2,3,4,5.“

Die Kinder setzen sich.

Lehrerin: „Wer enthält sich?“

Mehrere Kinder stehen auf.

Lehrerin: „1,2,3,4,5.“

Die Kinder setzen sich.

Lehrerin: „Das kann nicht sein. 5,5,5.“

Integrationshelferin: „Wir waren heute 17.“

Lehrerin: „Es fehlen 2. Es kann ja nochmal wiederholt werden, wenn so viele krank sind.“

 

Zu Beginn weist ein Schüler darauf hin, dass ein Anliegen vorgestellt werden muss, welches die Lehrerin besitzt. Die Lehrerin wird also indirekt aufgefordert, das Anliegen vorzutragen. Als gleichwertiges Mitglied haben LehrerInnen schließlich die Möglichkeit eigene Belange in den Klassenrat einzubringen (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244).Die Lehrerin stellt fest, dass das Anliegen von einem Erwachsenen aufgeschrieben wurde. Dies zeigt, dass die sie nicht ihr eigenes, sondern einen fremden Aspekt vorstellt. Es bleibt jedoch unklar, warum gerade die Lehrerin diesen vorliest. Der bzw. die AntragstellerIn könnte ihr dies aufgetragen haben. Eventuell übernimmt sie diese Aufgabe, weil sie Bedenken hat, dass die Kinder die „Erwachsenenschrift“ nicht lesen können. Der weitere Szenenverlauf zeigt, „[…] dass die Kinder sich auch ohne Hilfe der Lehrerin verständigten und auseinander setzten“ (De Boer 2008, S. 136). Während die Kinder diskutieren, verhält die Lehrkraft sich zunächst zurückhaltend und nimmt somit eine Beobachterrolle ein (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Nach mehreren Argumenten unterbricht die Lehrerin die Diskussion und fordert eine andere Struktur des Einigungsprozesses ein (Abstimmen) (vgl. Hauser & Haldimann 2018, S. 133). Ab diesem Zeitpunkt übernimmt sie die Gesprächsleitung und jegliche organisatorischen Aufgaben (vgl. ebd., S. 133):

 

  • Die Lehrerin leitet die Abstimmung ein und gibt den Kindern Anweisungen.
  • Sie zählt die Stimmen und wertet die Abstimmung aus.
  • Das weitere Vorgehen wird ebenfalls von der Lehrerin beschlossen: Sie schlägt vor die Abstimmung in der nächsten Klassenrat-Sitzung zu wiederholen, da manche TeilnehmerInnen nicht abgestimmt haben und mehrere Kinder krank sind.
 

Sie greift ein, obwohl die Argumentation noch nicht beendet ist. Damit fordert sie einen anderen Ablauf ein, mit dem eine Lösung gefunden werden soll (vgl. ebd., S. 133). Eine „eigene“ Gesprächsentwicklung seitens der SchülerInnen wird somit unterbunden (vgl. ebd., S. 133). Allgemein verhält sie sich entgegen dem Rollenverständnis als gleichgestellte Teilnehmerin: „Die Kinder übernehmen die Verantwortung für seinen Erfolg. Sie gestalten deshalb selbst, ob und wie sie Beschlüsse fassen, wobei die Lehrperson diesen Prozess als den Kindern Gleichgestellte unterstützt, aber nicht leitet“ (vgl. De Boer 2006, S. 13 zit. n. Grüning et al. 2022, S. 195).

 

Zweite Beobachtung

Die zweite Beobachtung fand in dem Klassenraum der anderen Lerngruppe des Klassenteams statt und umfasst die gesamte Klassenrat-Sitzung von 45 Minuten. Für die Beantwortung der Fragestellung werden ebenfalls relevante Situationen aus dem gesamten Beobachtungsprotokoll ausgewählt und analysiert.

 „Bevor wir mit dem Klassenrat starten, möchte ich, …“

Lehrerin: „Anouk, nicht mehr trinken. Jetzt hat unsere Stunde angefangen. Bevor wir mit dem Klassenrat starten, möchte ich, dass du deine Mathe-Hausaufgaben einpackst. Wohin gehört die Mathe-Hausaufgabe?“

Die Lehrerin schaut entlang der mit den Kindern befüllten Bänke. Ihr Blick bleibt bei einem Jungen stehen.

Lehrerin: „Paul.“

Paul: „In die rote Mappe.“

Lehrerin: „Nur in die rote Mappe! Ich möchte, dass du jetzt deine Mathe-Hausaufgaben einpackst.“

 

Bereits vor Beginn der Klassenratssitzung übernimmt die Lehrerin eine leitende Rolle, da sie entscheidet, wann dieser beginnt (vgl. Hauser & Haldimann 2018, S. 133). Außerdem setzt sie Klassenrat mit Unterricht gleich, da sie diesen als „Stunde“ definiert. Diese Gleichsetzung bewirkt, dass sich alle AkteurInnen in ihren gewohnten Rollen wiederfinden. Die Lehrerin bleibt in der Lehrerrolle und die Kinder in der Schülerrolle, wodurch die Herstellung einer Gleichwertigkeit aller Teilnehmenden erschwert wird (vgl. De Boer 2006, S. 13 zit. n. Grüning et al. 2018, S. 195).

 

Beschränktes Verteilen der Rollen

Lehrerin: „Wunderbar. Erledigt! Büchlein?“

Arne steht auf und geht auf den Tisch zu, der sich in der Mitte des Sitzkreises befindet. Er kniet sich hin, guckt in das Fach unterhalb der Tischplatte und greift nach einem schwarzen DIN-A5-Buch. Arne stellt sich wieder hin und gibt der Lehrerin das Buch. Er dreht sich von der Lehrerin weg und setzt sich wieder auf eine Bank.

Lehrerin: „Ich gucke mal, wir hatten letzte Woche kein Klassenrat, deswegen…“

Die Lehrerin klappt das Buch auf und blättert. Sie stoppt.

Lehrerin: „Dora?“

Die Lehrerin schaut entlang der auf den Bänken sitzenden Kinder. Ihr Blick bleibt bei Dora stehen.

Lehrerin: „Präsident. Verteilen! Bitte einen Jungen!“

Die Lehrerin nickt dabei Dora zu. Daraufhin strecken mehrere Kinder ihre Zeigefinger in die Luft und blicken zu Dora.

Dora: „Eric!“

Lehrerin: „Zeitwächter, Nora.“

Die Lehrerin richtet ihren Blick auf Nora.

Lehrerin: „Bitte, verteilen! Beobachter, Paul!“

Die Lehrerin schaut Paul an.

Lehrerin: „Bitte an ein Mädchen verteilen!“

 

Die Lehrerin fragt nach einem Buch, worin die Protokolle des Klassenrats festgehalten werden. Im Endeffekt sorgt sie dafür, dass das Material für den Klassenrat genutzt wird. Zudem steckt hinter ihrer Frage eine indirekte Aufforderung, das Buch zu holen. Schließlich reagiert Arne sofort, indem er sofort das Buch holt und es der Lehrerin übergibt. Interessant ist ebenso, dass Arne klar gewesen ist, welches Buch die Lehrerin meint. Schließlich hat die Lehrerin nicht erwähnt, wie das Buch aussieht und um welche Art von Buch es sich handelt. Dadurch ist die Frage „Büchlein?“ mit einem (trainierten) Kommando vergleichbar. Durch Arnes Reaktion wirkt die Lehrkraft sehr dominant und mächtig. Sie muss lediglich das Wort „Büchlein“ sagen und ein Kind springt auf. Dieses mächtige, von Dominanz geprägte Verhalten ist ebenso an der darauffolgenden Handlung der Lehrerin erkennbar. Sie fordert die leitenden SchülerInnen des letzten Klassenrats auf neue LeiterInnen für den gegenwärtigen Klassenrat zu wählen. Sie entscheidet, dass die ehemaligen Leitenden ihre Rolle abgeben und an ein neues Kind verteilen. Des Weiteren gibt sie ihnen vor, welches Geschlecht ausgewählt werden soll. Dies zeigt, dass leitende SchülerInnen der letzten Klassenrat-Sitzung unter Beobachtung der Lehrerin die neuen GesprächsleiterInnen bestimmen. Die Lehrerin beschließt, wie Vorsitzende gewählt werden und wie lange sie im Amt bleiben sollen, was eigentlich Aufgabe der SchülerInnen ist (vgl. ebd., S. 250). Sie gibt vor, worauf die Kinder beim Auswählen achten müssen und blendet dadurch SchülerInnen des anderen Geschlechts aus. Da die Kinder ihre Rolle an ein Kind mit gegenteiligem Geschlecht abgeben sollen, schränkt sie diese bei ihrer Auswahl enorm ein. Daher können eben nur bedingt alle SchülerInnen alle Funktionen im Klassenrat übernehmen (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 250).

 

Der Ausflug zu PARADISO (Kinder-Spielplatz)

Yasin: „Wir schlagen vor, dass wir einen Ausflug zu PARADISO auf unserer Klassenfahrt machen.“

Eric: „Könnt ihr eure Bitte genauer vorstellen?“

Jana schubst Laurenz und fasst sich mit ihrer linken Hand um ihren rechten Oberarm. Sie knickt etwas zusammen. Die Lehrerin schaut Jana und Laurenz mit ernstem Blick an. Ihre Augenbrauen sind etwas gesenkt.

Lehrerin: „Gibt’s ein Problem?“

Jana: „Der hat mir weh getan.“

Jana schaut nach rechts zu Laurenz.

Lehrerin: „Hat sich erledigt?“

Jana nickt.  

Yasin: „Können wir mit unserer Klasse zu PARADISO fahren?“

Tarek: „Da können wir doch nicht alle zusammenbleiben.“

Aron: „Wir bleiben doch alle zusammen.“ Dabei wirkt Arons Stimme genervt.

Eric: „Man verläuft sich nicht in PARADISO. Funland ist viel größer. Man kann sich da nicht verlaufen. Ein Kind kann doch auf das andere Kind aufpassen.“

Dora: „25 Kinder können nicht in einen Raum gehen.“

Lara: „Man kann sich die Zahl merken und dann verläuft man sich nicht.“

Yasin: „Da kann man Fußball spielen, klettern, Bällebad, … “

George: „Das ist nicht so klein und da gibt’s ein Parcours.“

Dora: „Ich finde PARADISO schon cool. Aber wenn wir zu PARADISO fahren als Klassenfahrt, dann müssen wir Klassenfahrt absagen.“

Lisa: „Klassenfahrt bedeutet aber doch übernachten. Da übernachten wir nicht!“

Yasin: „Das ist wahrscheinlich falsch aufgeschrieben. Ich meine das so, wie nächste Woche Montag. Dass, wir da für ein paar Stunden hingehen.“

Dora: „Aber wir haben doch schon eine Klassenfahrt.“

Yasin: „Ich hab doch gesagt, dass das falsch aufgeschrieben ist.“

Mark: „Können wir eine Abstimmung machen?“

Lehrerin: „Ich sage mal etwas aus Lehrerperspektive. Wir haben nächstes Jahr schon eine Klassenfahrt mit Übernachtung. Und das ist ziemlich weit voneinander entfernt. Aber hier geht es ja um einen Tagesausflug. Wenn wir einen Ausflug machen, müssen wir, wie beim Theater, erklären, was wir dabei lernen. Was ist der Lernauftrag bei einem Ausflug nach PARADISO?“

Die Lehrerin schaut nach links. Ihr Blick wandert dann entlang der auf den Bänken sitzenden Kinder. George hebt seinen Zeigefinger in die Luft. Die Lehrerin nickt ihm zu.

George: „Autoscooter lernen?“

Die Lehrerin nickt ihm zu.

Aygül: „Bewegung?“

Lehrerin: „Bewegung haben wir aber auch am Schulhof! PARADISO ist also eher etwas für einen Kindergeburtstag oder für den Nachmittag.“

 

Einerseits ist es Aufgabe des Beobachters, Störungen wahrzunehmen und durch den Gong zu verwarnen. Andererseits könnte das Eingreifen der Lehrerin als Unterstützung angesehen werden. Möglicherweise hat der Beobachter die Auseinandersetzung von Jana und Laurenz nicht mitbekommen. Anhand des ernsten Blicks der Lehrkraft lässt sich erkennen, dass sie den Vorgang beobachtet hat. Aufgrund der eskalierenden Situation steht sie der Schülerin Jana zur Seite und versucht das Problem gemeinsam zu lösen (vgl. Heinzel 2016, S. 76f zit. n. Bauer 2018, S. 684). Die Lehrerin nimmt Janas Anliegen ernst und fragt nach, ob das Problem geklärt ist. Durch das Eingreifen der Lehrerin wird jedoch der Klassenrat unterbrochen, wodurch Yasin erneut seinen Vorschlag vorstellen muss. Der ernste Blick der Lehrkraft veranschaulicht, dass sie das Gerangel von Jana und Laurenz nicht angebracht findet. Daraufhin entscheidet sie sich nachzufragen, ob es ein Problem gibt. Mit dieser offenen Fragestellung möchte sie herausfinden, was zwischen den beiden Kindern vorgefallen ist, um eine Lösung zu finden. Fraglich bleibt, ob dieses Eingreifen tatsächlich „notwendig“ gewesen ist. In den Augen der Lehrerin wird dieses Ereignis als störend, nicht angemessen oder auch als wichtig empfunden. Hingegen zeigt die nicht vorhandene Reaktion der SchülerInnen und insbesondere des Beobachters, der für Störungen und Unterbrechungen des Klassenrats zuständig ist (vgl. Kap. 4.1), dass das Schubsen den Ablauf des Klassenrats aus Sicht der Kinder (noch) nicht beeinträchtigt hat. Daraus lässt sich ableiten, dass die Hemmschwelle einer Lehrerin sich von der der SchülerInnen unterscheidet. Die Lehrkraft greift viel eher bei einem solchen Verhalten ein als die leitenden SchülerInnen. Aufgrund ihrer Beobachterrolle nimmt die Lehrerin gegebenenfalls auch mehrere Verhaltensweisen der Kinder wahr, die aus ihrer Perspektive nicht in den Klassenrat gehören (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Die Lehrperson ist also eher passiv am Geschehen beteiligt und kann sich somit auf andere Dinge, zum Beispiel Störfaktoren, fokussieren (vgl. Hauser & Haldimann 2018, S. 132f). Dennoch soll die Verantwortung für die Durchführung des Interaktionsgeschehens den SchülerInnen überlassen werden (vgl. ebd., S. 132f). Gleichzeitig soll die Sitzung jedoch strukturiert, zielorientiert und innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens ablaufen (vgl. ebd., S. 132f). „Dabei bleibt die Aufgabe der Pädagogen in gewisser Weise paradox: Sie sollen Verantwortung und Führung abgeben, aber genau dies soll in ihrer Verantwortung liegen und unter ihrer Führung geschehen“ (Kunze 2004, S. 310 zit. n. Hauser & Haldimann 2018, S. 131). Die LehrerInnen sind zwischen Partizipationsmöglichkeiten und schulisch-normativen Vorgaben gefangen, wodurch sie zwischen der Kontrolle und Abgabe von Verantwortung schwanken (vgl. Budde et al. 2016, S. 179f zit. n. Bauer 2018, S. 685). Daraus ergibt sich ein Rollenkonflikt, wodurch diese Situation nochmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden könnte. Möglicherweise hat sie aus Unsicherheit gehandelt, um dem institutionellen Rahmen gerecht zu werden (vgl. Bauer 2018, S. 685). Die Lehrerin beteiligt sich an der Diskussion und betont dabei, dass sie das Anliegen nun aus „Lehrerperspektive“ betrachtet. Dadurch ist ihre Rolle als Lehrkraft auch klar definiert. Obwohl das Anliegen bereits richtiggestellt wurde, erklärt sie den Kindern erneut, dass bereits eine Klassenfahrt mit Übernachtung geplant ist. Sie macht ebenfalls klar, dass der Standort von PARADISO zu weit von dem für die Klassenfahrt festgelegten Ort entfernt ist. Dadurch zeigt sie, dass sie die Diskussion beobachtet und die Argumentation vieler SchülerInnen nachvollziehen kann. Gleichzeitig fasst sie die bereits stattgefundene Diskussion dadurch nochmal zusammen und verhält sich somit als Moderatorin (vgl. De Boer 2006, S. 90 f zit. n. Bauer 2018, S. 685). Sie signalisiert auch, dass ein Ausflug zu PARADISO während der Klassenfahrt Schwierigkeiten bereitet. Sie begründet dies mit der Entfernung zwischen PARADISO und der Unterkunft als auch mit der bevorstehenden Klassenfahrt an sich, die bereits einen Ausflug darstellt. Sie stellt jedoch richtig, dass dieses Anliegen einen Tagesausflug unabhängig von der Klassenfahrt beinhaltet. Folglich erläutert sie den SchülerInnen, dass ein solcher Ausflug begründet werden muss. Es muss geklärt sein, was die Klasse durch den Besuch bei PARADISO lernt. Sie argumentiert aus Lehrersicht und bringt dadurch ein neues Thema in den Klassenrat: Die Begründung eines Ausflugs in der Schule (vgl. Dinkmeyer Sr. et al. 2019, S. 244). Schließlich fragt sie die Kinder, welchen Lernauftrag der Ausflug nach PARADISO mit sich bringt. Dadurch hinterfragt sie Yasins Vorschlag aus Lehrerperspektive. Zudem bringt sie die Kinder dazu, sich mit ihrer Frage zu beschäftigen. Sie unterbricht den Gesprächsverlauf, dominiert die Sitzung und belehrt die Kinder, dass der Lernertrag eines Schulausflugs geklärt sein muss (vgl. ebd., S. 244). Vermutlich ist diese Idee aus Sicht der Lehrerin ein Thema, das nicht in der Verantwortung der SchülerInnen liegt und somit auch nicht von ihnen gelöst werden kann (vgl. Grüning et al. 2022, S. 199). Die Lehrkraft hat eine andere Sichtweise auf den Vorschlag als die SchülerInnen (vgl. Heinzel 2002, S. 126 zit. n. Bauer 2018, S. 684). „Während die Professionellen zumeist an formalen und institutionellen Gesichtspunkten orientiert sind, argumentieren Kinder laut ihrer Untersuchung eher vor dem Hintergrund geschlechts- oder peerspezifischer Aspekte“ (Heinzel, 2002, S. 120ff zit. n. Bauer, 2018, S. 684). Der Blickwinkel der Lehrerin fokussiert sich lediglich auf die Legitimation des Ausflugs. Hingegen hat der Antragssteller den gemeinsamen Ausflug im Blick. Er möchte etwas mit seiner Klasse unternehmen, wobei freizeitsportliche Aspekte, wie „Fußball spielen, klettern, Bällebad“ inbegriffen sind. „Die formal egalitäre Anordnung der Beteiligten und die spielerische Ermächtigung der Kinder erfordern es, dass Erwachsene ihre Rolle als Lehrer und Akteur im Kreis immer wieder neu bestimmen müssen (vgl. a.a.O., 126). Die Problematik liegt dabei in der Differenz der Sichtweisen der Schüler als auch des Lehrers auf bestimmte Probleme“ (Bauer 2013, S. 49). Nachdem die Lehrerin ihre Frage gestellt hat, nimmt sie auch Kinder dran, die sich melden. Sie agiert also als steuernde Instanz, erteilt das Rederecht und tritt somit in ihrer Autorität als Lehrerin auf (vgl. Nell-Tuor & Haldimann 2019, S. 74; vgl. Lähnemann 2004, S. 159 zit. n. Bauer 2018, S. 685; vgl. Grüning et al. 2022, S. 117). Die Lehrerin beschränkt sich somit nicht mehr auf eine Beobachterrolle, sondern agiert als Leitung des Klassenrats (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Dieses Verhalten spricht gegen die Auffassung, dass die Lehrerrolle von grundsätzlicher Zurückhaltung geprägt ist (vgl. Busch & Otto 2019, S. 10). Indem sie ihre Frage priorisiert und anschließend auswählt, welches Kind sich zu ihrer Frage äußern darf, stellt sie das Gegenteil ihrer Rolle dar: „Unabhängig von dieser grundsätzlichen Zurückhaltung in den Sitzungen sind Lehrpersonen jedoch als Begleiter*innen des Klassenrats gefordert. Dies bezieht sich sowohl auf die Unterstützung des Leitungsteams und die Bereitschaft, bei Fragen der Schüler*innen mit Rat und Hilfestellung zur Verfügung zu stehen […]“ (Busch & Otto 2019, S. 10). Außerdem reagiert die Lehrperson auf Argumente der SchülerInnen. Beispielsweise stimmt sie George zu, indem sie ihm zunickt. Hingegen entkräftet sie Aygüls Aussage, indem sie der Meinung ist, dass Bewegung auch am Schulhof stattfindet. Sie meldet den Kindern also verbal und anhand ihrer Körpersprache zurück, ob es sich um ein „gutes“ Argument handelt. Die Lehrerin fasst zusammen, dass der Ausflug zu PARADISO eher etwas für den Nachmittag oder einen Kindergeburtstag ist. Sie nimmt den Vorschlag also nicht ernst und hinterfragt diesen ebenfalls zuvor, da sie aus einer anderen Perspektive auf den Vorschlag schaut. Die Lehrerin geht hier von ihrer eigenen Relevanz aus: Sie ordnet den Besuch bei PARADISO eher dem Nachmittagsbereich oder einem Kindergeburtstag zu, die Kinder jedoch nicht (vgl. Lähnemann, 2004, S. 159 zit. n.  Bauer, 2013, S. 50). „Außerdem hat die Lehrerin oder der Lehrer eine Vorbildfunktion, zu der gehört, sich ebenfalls an die vereinbarten Regeln zu halten, wie beispielsweise das Melden und Warten, bis man an der Reihe ist. Auch müssen eigene Punkte, die thematisiert werden sollen, vorher angemeldet werden, wie es die SchülerInnen machen“ (Giese et al. 2004, S. 5). Die Lehrerin hält sich nicht an die Regeln und meldet ihren Punkt nicht vorher an, sondern sie trifft eigenständig eine Entscheidung und vermittelt den Kindern, dass der Ort „PARADISO“ nicht für einen schulischen Ausflug geeignet ist, da er keinen Lernertrag bietet. Es findet kein Perspektivwechsel statt, sondern sie betrachtet das Anliegen lediglich aus „Lehrerperspektive“ und nutzt somit nicht „[…] die Möglichkeit für Lehrende, in die Rolle von Lernenden zu schlüpfen, denn auch sie haben nicht immer die beste Lösung parat“ (Giese et al. 2004, S. 5). Sie gibt das Ergebnis vor, indem sie den Vorschlag das Spielhaus „PARADISO“ zu besuchen vom schulischen Bereich abgrenzt (vgl. Giese et al. 2004, S. 5). Sie nimmt den Prozess einer Lösungsfindung nicht nur vorweg, sondern sie vermeidet ihn auch (vgl. ebd., S. 5). Seitdem die Lehrerin ihre Perspektive in die Diskussion eingebracht hat, ist das Gespräch stark von ihr bestimmt: „Sie [die Lehrkraft] gibt die Impulse und die Orientierungen, sie erteilt das Rederecht, sie hat ‚das letzte Wort‘ […]“ (Lähnemann 2004, S. 159 zit. n. Bauer, 2018, S. 685). Die Lehrerin setzt ihre Orientierungen ohne Akzeptanz der SchülerInnen machtvoll durch (vgl. Lähnemann 2004 zit. n. Bauer, 2013, S. 50). „Die Normen, die der Lehrerin wichtig sind […] werden nicht zur Diskussion gestellt und als sinnvolle Normen in der Diskussion ‚erarbeitet‘, sondern sie werden von der Lehrerin gesetzt. […] Die Schülerinnen und Schüler bieten andere Normen als ebenso sinnvolle an. Es kommt zu keiner Verständigung darüber […]“ (Kiper 1997, S. 190 zit. n. Bauer 2013, S. 50). Dies lässt sich daran erkennen, dass der Beschluss der Lehrkraft nicht mehr diskutiert und auch keine Abstimmung stattfindet. Es wird lediglich das nächste Anliegen vorgestellt.

 

Fazit

Zunächst lässt sich feststellen, dass die Lehrerrolle aus Sicht der SchülerInnen klar definiert ist: Sie agiert als Protokollantin, die sich aus dem Interaktionsgeschehen raushält und lediglich einen schriftlichen Bericht über den Klassenrat anfertigt. Aus den Beobachtungen und der Analyse geht insbesondere die zu Beginn beschriebene widersprüchliche Rolle der LehrerInnen im Klassenrat hervor (vgl. Kap. 1). Während die SchülerInnen über ein Thema diskutieren, verhält die Lehrkraft sich größtenteils zurückhaltend und beobachtet das Geschehen. Die Beobachterrolle ermöglicht der Lehrerin Problemsituationen, zum Beispiel Streitigkeiten, Gerangel usw., besser wahrzunehmen, sodass sie im Notfall eingreifen kann. Gleichzeitig nimmt die Lehrperson jedoch eine leitende Funktion ein, sobald sie an der Diskussion teilnimmt. Sie verhält sich nicht als Gleichgestellte, sondern interveniert den Klassenrat, fordert einen anderen Einigungsprozess ein und beschließt die weitere Vorgehensweise bezüglich eines Anliegens. Letztendlich entscheidet also die Lehrkraft, wie mit dem jeweiligen Thema des Klassenrats umgegangen wird. Allgemein gibt die Lehrerin ihre Verantwortung zeitweise an die SchülerInnen ab, diese wird jedoch von der Lehrperson bewacht, kontrolliert und teilweise auch wieder in den eigenen Anspruch genommen. Sie lenkt und strukturiert die Interaktion nach ihren Vorstellungen. Der Lehrerin fällt es schwer, ihre gewohnte Rolle abzulegen, mit den Kindern auf Augenhöhe zu interagieren und sich somit als „normale“ Teilnehmerin zu verhalten. Dies lässt sich auch anhand ihres Umgangs mit Schülerbeiträgen erkennen. Sie stellt die Argumente der SchülerInnen infrage und setzt ihre Perspektive machtvoll durch. Außerdem legt die Lehrerin Normen für den Klassenrat fest, da sie die Kinder auffordert, leise zu sein. Mehrere organisatorische Aufgaben, zum Beispiel das Vorlesen des Kinderparlament-Protokolls, das Bereitstellen von Utensilien für den Klassenrat oder auch das Nachschauen der letzten Klassenrat-Sitzung, werden von ihr – teilweise ohne Absprache mit den leitenden SchülerInnen – übernommen. Sie hält sich nicht an die Regeln und ihre Rolle hebt sich von der der Kinder ab. Die Lehrerin nimmt dadurch eine Sonderrolle im Klassenrat ein: „So bewegt sich die Ambivalenz der Lehrerrolle im Spannungsfeld des Bestrebens gleichwertige Teilnehmer/innen und positives Vorbild zugleich sein zu wollen. Dies spiegelt sich auch in dem unauflösbaren Widerspruch, im Klassenrat Selbsttätigkeit ermöglichen und gleichzeitig eine autoritative Moral entwickeln zu wollen“ (De Boer 2008, S. 129). Trotz der Versuche, Mitbestimmungsmöglichkeiten einzuräumen, ist das Kreisgespräch im Rahmen der Schule eine durch Dominanz gekennzeichnete Lebenspraxis (vgl. Bauer 2013, S. 49). Das theoretische Konstrukt der Schülerleitung in der Praxis bringt eine Reproduktion des Machtanspruchs der LehrerInnen mit sich (vgl. ebd., S. 52). Inwieweit äußere Faktoren, wie die für den Klassenrat zur Verfügung stehende Zeit, der institutionelle Rahmen als auch Erwartungen von SchülerInnen an die LehrerInnen, das Lehrerhandeln beeinflussen, kann lediglich spekuliert werden. Die Untersuchung systematischer Einflüsse der schulischen Institution auf das Lehrerhandeln könnte einen weiteren Forschungsbereich darstellen. Des Weiteren könnte erforscht werden, ob der Klassenrat tatsächlich Mitbestimmungsmöglichkeiten für SchülerInnen eröffnet.

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