(Rollen-) Verhalten von Lehrkräften

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

 

Keywords: Klassenraum, Aula, Schulhof, Rolle der LehrerInnen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

„Der homo sociologicus bezeichnet einen Menschen, dem in seinem alltäglichen Leben verschiedene soziale Rollen zukommen, mit welchen wiederum verschiedene Normen, Werte und damit gesellschaftliche Erwartungen verbunden sind, denen er sich beugen muss [,soll oder kann]“ (Rollenbild, o.D.). Das von Dahrendorf 1965 entwickelte Modell lässt sich in gewisser Weise auch knapp 60 Jahre nach Erstveröffentlichung auf den Lehrer*innenberuf übertragen. An Lehrkräfte werden von verschiedenen Institutionen bzw. von verschiedenen Akteuren Erwartungen gesetzt, die zum Teil diffus und widersprüchlich sind. Der Alltag einer Lehrkraft besteht aus Spannungsfeldern und Antinomien, zwischen deren Polen sich ein komplexes Handlungsschema ergibt. Beispielhaft dafür ist die diffuse Beziehungslogik zwischen der Lehrkraft und der Schülerschaft: „Das Arbeitsbündnis zwischen der Lehrkraft und der Schülerin bzw. dem Schüler ist dadurch geprägt, dass es asymmetrisch strukturiert ist und zugleich in seiner Bedeutung folgenreich ‚für die Entwicklung des Schülers als ganze Person‘“ (Oevermas 1996, zit. nach Kowalski 2020, S. 12). Dabei ergibt sich die biographische Bedeutung nicht nur aus dem vermittelten Wissen, sondern die Lehrkraft hat eine ebenso große Bedeutung für die Erziehung des Individuums, für den beruflichen Werdegang, für die Interessensbildung, etc. Das Kind sieht in der Lehrkraft keinen professionellen Akteur, der es in einer Zeitspanne begleitet. Kinder können noch nicht zwischen diffusen und rollenförmigen Beziehungen unterscheiden und nehmen die Handlung von Pädagogen auf ihre ganze Person gerichtet wahr (Vgl. Helsper 2021, S. 168). Daraus ergibt sich für die Lehrkraft die Herausforderung, einerseits die diffuse Beziehungslogik zuzulassen, andererseits diese durch Grenzziehung und Distanzwahrung auszubalancieren (Vgl. ebd.). Helsper bezeichnet die genannten Punkte unter anderem als Symmetrie- und Näheantinomie[1].

Neben den strukturellen Herausforderungen des LehrerInnenberufs ergibt sich eine Vielzahl von Aufgaben, denen im schulischen Alltag nachgegangen werden muss. Öffnet man einen beliebigen Leitfaden über gute Lehrkräfte oder guten Unterricht, so begegnet einem garantiert eine Übersicht über die verschiedenen Aspekte des Lehrerhandelns. Lehrersein ist mehr als nur Unterrichten, es ist Beraten, Kooperieren, Leiten, Erziehen, Begleiten, Fördern, Bewerten, etc., welches sich unter anderem aus den verschiedenen Erwartungen und Anforderungen gründet. Aus diesen verschiedenen Anforderungen, Wirkungsbereichen und Aufgaben, werden häufig „Rollen“ hergeleitet, welche die Lehrkraft in seinem Alltagshandeln erfüllt. Gleiches wird in dieser Ausarbeitung übernommen, auch wenn festgestellt werden muss, dass „Rollen“ in Beobachtungssituationen auch in Verhaltensmuster von außen interpretiert werden können und dass der Übergang zwischen den verschiedenen Bereichen fließend ist.

Mein methodisches Vorgehen

Die Schwierigkeit, das alltägliche Handeln der schulischen Akteure zu erforschen, besteht darin, dass jedes Individuum eine Vorstellung davon hat, wie Schule bzw. Unterricht funktioniert. Ich als Forscher habe selbst 12 Jahre als Schüler das Schulsystem erlebt und kann daher auf einen großen Satz an Erfahrungen zugreifen. Durch das Studium und praktische Erfahrungen im Beruf habe ich gleichermaßen einen weiteren Zugang, über den ich mich mit dem Konstrukt Schule auseinandersetzen kann. Es lässt sich also sagen, dass ich ausgehend von meinen persönlichen Erfahrungen kaum eine objektive Perspektive einnehmen kann, da ich die unbewussten Verhaltensregeln des Unterrichts selbst adaptiert habe. Die Herausforderung für mich als Forscher liegt nun darin, einen befremdeten Blick auf die Strukturen des Unterrichts einzunehmen, um das Handlungskonstrukt in seiner Komplexität darstellbar machen zu können. Dies wird als ethnographische Forschung bezeichnet. „Ethnographische Forschung erhebt den Anspruch, als explorative Strategie Entdeckungen in der Alltagspraxis der Schulakteure zu machen“ (Wiesemann 2011, S. 167). Ermöglicht wird ethnographische Forschung dadurch, dass die alltäglichen gemeinsamen Interaktionen von außen beobachtbar sind. Zum einen konnte ich so die Gestik, Mimik, Haltung, Redeanteile, etc. von einzelnen AkteurInnen beobachten und dokumentieren, wie sie sich verhalten. Zum anderen kann alltägliche Interaktion nur dann gelingen, wenn dabei gemeinsam verständliche Regeln, Symbole und Zeichen gebraucht werden. Ich als wissenschaftlicher Beobachter habe nun die Aufgabe, die unbewussten Strukturen[2] aus den Interaktionen erkennbar machen zu können. Mein befremdeter Blick konzentrierte sich zunächst auf einzelne Verhaltensweisen von Individuen. Beispielsweise: Wie positioniert sich Schüler X, während die Lehrkraft an der Tafel redet? Je mehr ich meinen Blick auf die Prozesse befremden konnte, desto weiter konnte ich in die komplexe Struktur- und Kausalkette des „Unterricht machens“ einsehen. Nach einigen Beobachtungsdurchläufen konnte ich mich schließlich vermehrt auf das Verhalten der Lehrkraft fokussieren, zumeist unter der Fragestellung, wie sich die Lehrkraft verhält und wie die Lehrkraft auf bestimmte Situationen reagiert. Eine Herausforderung stellte für mich dar, dass ich nicht dauerhaft als neutraler Beobachter tätig war, sondern über große Teile selbst als Lehrkraft agierte. Während ich also auf der einen Seite die unbewussten Strukturen des Lehrerhandelns herausarbeiten wollte, adaptierte ich sie auf der anderen Seite selbst. Welche Chancen und Probleme diese ambivalente Rolle in meinem Forschungsprozess bedeutete, soll im nächsten Abschnitt beschrieben werden.

Meine Rolle als Forscher

Während meines Praxissemester begleitete ich vor allem eine zweite und vierte Klasse, deren Lernkultur in einem späteren Abschnitt konkreter erläutert werden soll. Vorweggenommen war ich in der zweiten Klasse mehr in der Rolle eines Beobachters von außen, während ich in der vierten Klasse deutlich häufiger in den Unterricht eingebunden war. In dieser hielt ich beispielsweise nicht nur meine erste eigene Unterrichtsstunde, sondern ich übernahm ebenso zwei komplexe Unterrichtsreihen in verschiedenen Fächern. Das machte die Abgrenzung zu meiner Rolle als Forscher teilweise schwierig. Während ich in der einen Stunde das Verhalten der Lehrkraft beobachtete und dokumentierte, wie sich die Lehrkraft beispielsweise mit Blicken und Tonlage die Aufmerksamkeit der Kinder sicherte, war ich in der anderen Stunde selbst der Lehrer und fügte mich in die Rolle ein, die ich zunächst noch beobachtet habe. Im Anschluss an den geleiteten Unterricht konnte ich reflektieren, wie meine neutralen Eindrücke von außen zu meiner Wahrnehmung im Lehrerhandeln passten. Das war auf der einen Seite für meine eigene Reflexion ein großer Vorteil, da ich mich selbst hinterfragen konnte, wie ich mich den unbewussten Strukturen des Unterrichts anpasste und wie ich diese auch biegen und verändern konnte[3]. Durch eine befremdete Perspektive konnte ich Aspekte herausarbeiten, die ich selbst anders gestalten möchte und die man auch nur dann anders gestalten kann, wenn man Einsicht in die unausgesprochenen Strukturen hat. Auf der anderen Seite tat ich mich durch diese Ambivalenz auch schwer, eine befremdete Perspektive einzunehmen, da ich häufig kein neutral-objektiver Forscher war, sondern ich als Lehrkraft im Klassenraum wahrgenommen wurde. Wenn ich also Kinder während der Beobachtungsphase ansah, die dem Unterricht gerade nicht folgten, wurde mein Blick häufig als Ermahnung gewertet, wodurch die „Natürlichkeit“ der Situation gestört wurde, aufgrund meines Einflusses von außen. Auch fiel es mir manchmal schwer aufgrund meiner persönlichen Involviertheit und meinen theoretischen und praktischen Erfahrungen, die schulischen Interaktionen in einer unvoreingenommenen Perspektive zu betrachten. So war ich zwar geübt darin das Verhalten von außen zu beobachten und zu dokumentieren, jedoch merkte ich häufig selbst, dass ich gewisse Vorerwartungen in meinem Beobachtungsfokus setzte. Wenn ich also beispielsweise das Verhalten der Lehrkraft beobachtete unter der Prämisse, ihr Verhalten zu verstehen und zu dokumentieren, setze ich unbewusst häufig einen Fokus darauf, welche unterschiedlichen Situationen das Verhalten beeinflussten. Ich wurde also in meiner Erwartung, dass Lehrkräfte verschiedene Rollen übernahmen bestätigt, da ich unbewusst diesen Fokus bereits im Vorhinein gesetzt habe. Leichter fiel es mir daher „freier“ zu beobachten, ohne vor der Dokumentation bereits einen Fokus zu setzen. Während meiner Zeit als Praktikant lernte ich also neben dem Agieren als Lehrkraft auch die Tätigkeit des ethnographischen Forschens, mitsamt seinen Herausforderungen.

Die Lernkultur meiner begleiteten Klassen

Im Zeitraum zwischen Mitte Februar und Ende Juni begleitete ich hauptsächlich eine zweite und vierte Klasse, wodurch ich unterschiedliche Phasen des schulischen Handelns kennenlernen konnte. Während die vierte Klasse in ihr letztes Halbjahr vor dem Schulwechsel ging, bestritt die zweite Klasse ihr erstes Schuljahr in Präsenz[4]. Auch in der Klassenführung unterschieden sich die beiden Klassen auffällig. Der Unterricht der vierten Klasse war tendenziell eher lehrerzentriert und es wurde in Arbeitsphasen weniger differenziert. In der zweiten Klasse hingegen wurde mit vierfach differenzierten Wochenplänen gearbeitet und Tafelunterricht wurde nur in Phasen des Erklärens, Einleitens und Zusammentragens durchgeführt. Beide Klassenräume bestanden aus Gruppentischen, an denen sich die Kinder gegenübersaßen. Meine Position in beiden Klassenräumen war ähnlich, da ich mich stets ans hintere Ende der Klasse setzte, mit Blickrichtung zur Tafel.


Neben der zweiten und vierten Klasse, welche ich täglich besuchte, begleitete ich wöchentlich ebenfalls eine dritte Klasse, welche sich von den anderen beiden nochmals deutlich unterschied. In der dritten Klasse wurde ebenfalls mit vierfach differenzierten Wochenplänen gearbeitet, jedoch geschah dies meistens isoliert in Einzelarbeit. Der Klassenraum war in zwei große I-förmige Gruppentische angeordnet und an der Wand wurde einiges an Material platziert, wie beispielsweise das aktuelle Thema, die Klassenregeln und einige Wortkategorien.


Betrachtet man die Schule im Gesamten, lässt sich ein besonderer Fokus auf MINT-Projekte erkennen. Die Schule verfügt über einen eigenen Forscherraum und bietet ein monatliches Experiment an, welches allen Klassen präsentiert wird. Darüber hinaus bietet die Schule Jekits-Unterricht an, den die Kinder regelmäßig besuchen. Im Hinblick auf den Medieneinsatz ist die Schule eher „konservativ“, da es nur wenige zugängliche Computer gibt, der Tablet-Satz kaum genutzt wird und Formate wie Padlet oder ANTON selten bis gar nicht eingesetzt werden. Daher konzentriert sich der Materialeinsatz hauptsächlich auf die Tafel, auf Arbeitsblätter und Schulbücher.

Dichte Beschreibungen

Ort: Klassenraum      Klasse: 3        Zeitrahmen: 5 Minuten in der 2. Unterrichtsstunde

Vorne an der Tafel steht Frau S. vor einer topographischen Karte von Deutschland und fragt, was die roten Linien auf der Karte bedeuten könnten. Dabei blickt sie die Kinder an, besonders diejenigen, welche ihren Arm in die Luft strecken. Andere Kinder unterhalten sich leise miteinander, indem sie ihre Köpfe leicht geduckt zueinander halten. Die Lehrerin schlägt gegen eine Klingel vorne an ihrem Pult, wodurch plötzlich alle Kinder ihre Köpfe heben und nach vorne blicken. „A. du bist bitte leise im Unterricht“, sagt die Lehrerin in einem ernsten Ton und sieht einen Jungen auf der linken Seite mit großen Augen an. „Ich frage nochmal“, setzt die Lehrerin fort, „was bedeuten die roten Linien auf der Karte?“ Sie zeigt auf ein Mädchen, welches ihrem Arm in die Luft streckt. Diese erklärt, dass die roten Linien für Flüsse stehen könnten. Die Lehrerin schüttelt mit dem Kopf und fragt, welche Farbe Flüsse auf der Karte haben. Erneut zeigen einige Kinder auf. Die Lehrerin ruft F. auf, welcher daraufhin sagt, dass Flüsse blau auf der Karte wären. Die Lehrerin nickt und fragt erneut laut nach den roten Linien. Gleichzeitig fährt sie mit ihrem Zeigefinger eine der roten Linien auf der Karte nach. Die meisten Kinder blicken regungslos nach vorne. Die Lehrerin schaut sich in der Klasse um, ruft diesmal jedoch kein Kind auf, sondern zeigt auf eine kleinere Karte daneben. „Auf der politischen Karte könnt ihr die roten Linien besser sehen. Was haben sie zu bedeuten?“ Ein paar mehr Kinder strecken ihre Hand in die Luft, unter anderen E. in der zweiten Reihe. Die Lehrerin nickt ihm zu und behält dabei weiter den Zeigefinger auf der roten Linie. „Die roten Linien zeigen, wo Deutschland ist“, antwortet der Junge. Die Lehrerin bestätigt dies mit einem „Richtig“ und ergänzt, dass man es in der Fachsprache als Grenze bezeichnet. Anschließend zeigt die Lehrerin auf die grünen bis dunkelgrünen sowie gelben bis braunen Farben auf der Karte und fragt, was diese bedeuten könnten. Ein Mädchen in der dritten Reihe zeigt auf und sagt nach der Reaktion der Lehrerin, dass dies Wälder oder Bäume sein könnten. „Nicht ganz“, sagt die Lehrerin. „Aber bei welcher Farbe könnten die Wälder denn am ehesten stehen?“. Die Lehrerin schaut dabei das Mädchen an, welche daraufhin antwortet, dass die Bäume beim dunkelgrünen Bereich stehen könnten. „Und was ist das Hellgrüne?“ „Gras und Wiesen“, antwortet das Mädchen erneut. „Und wachsen Gräser und Bäume eher da wo es hoch ist oder da wo es niedrig ist?“ Das Mädchen setzt sich plötzlich aufrecht hin und streckt ihren Arm weit nach oben. Die Lehrerin nickt ihr erneut zu. „Ahhh“, sagt das Mädchen, „die Farben zeigen an, wo in Deutschland etwas hoch und wo etwas niedrig ist.“ „Ja genau und wie nennt man so etwas“, fragt die Lehrerin, richtet ihren Blick diesmal auf andere Kinder und zeigt mit der flachen Hand auf einen Jungen auf der rechten Seite. Dieser antwortet mit „Berge“. „Richtig. Sind die Berge denn eher beim Grünen oder beim Braunen?“ „Braun steht für die Berge und Grün steht für flache Gebiete“, antwortet ein Junge, nachdem ihn die Lehrerin namentlich aufgerufen an. Die Lehrerin nickt und erklärt die verschiedenen Farben auf der Karte. „Als nächstes nimmst du dir mit einem Partner eine Karte und beantwortest die Fragen auf dem Arbeitsblatt. Ich habe noch ein paar Fühlkarten, mit der du die Höhen und Tiefen von Deutschland ertasten kannst. Ich habe leider nur ein paar, deshalb bitte ich die Kinder damit zu arbeiten, bei denen ich die Karten auf den Tisch lege. Die anderen Kinder holen sich bitte leise einen Atlas vorne bei mir ab.“


Ort: Aula (Bühnenbereich)    Klasse: 2       Zeitrahmen: 5 Minuten in der zweiten Stunde

Frau L. stellt sich auf die Bühne in der kleinen Aula und wartet darauf, dass die Kinder der zweiten Klasse leiser werden, die sich währenddessen einen Sitzplatz auf dem Boden oder auf einem der Stühle suchen. Die Kinder unterhalten sich untereinander und nur wenige richten ihren Blick leise zur Bühne. Frau L. schaltet das Mikrofon ein, welches sie in der Hand hält und begrüßt die Kinder mit einem lang gezogenen „Hallo“, welches durch die Boxen neben der Bühne verstärkt wird. Sofort sind die Kinder still und schauen zumeist irritiert nach vorne. Die Lehrerin lächelt und erklärt den Kindern, weiterhin durchs Mikrofon sprechend, dass wir die heutige Theaterprobe auf der Bühne abhalten und deshalb auch mit dem Mikrofon üben, damit uns alle gut verstehen können. Zwei Jungen zeigen sich begeistert und fangen an, euphorisch miteinander zu reden. Die Lehrerin guckt sie mit einem strengen und abwartenden Blick an. Die Jungen unterhalten sich weiterhin, woraufhin ein dritter Junge neben ihnen empört sagt, dass sie endlich still sein sollen. Die beiden Jungen schauen sich um sind abrupt leise, offensichtlich, da sie den Blick der Lehrerin bemerken. Frau L. wendet sich mit ihrem Blick ab, bedankt sich bei dem dritten Jungen und erklärt anschließend, dass die Kinder ihre Rollen im Theaterstück kennen und wo sie sich auf der Bühne aufstellen sollen. Die ersten Kinder stehen auf und klettern schnell auf die Bühne, während die Lehrerin noch am Reden ist. Sie unterbricht ihren Satz, sieht die Kinder mit geweiteten Augen an und sagt mit erhobener Stimme, dass sie noch nicht fertig ist und dass sie noch nicht gesagt hat, dass es losgehen kann. Die aufgestanden Kinder setzen sich schnell wieder hin. Als alle wieder sitzen, setzt Frau L. ihre Erklärungen fort. Etwa eine Minute später verkündet sie, dass die Kinder jetzt auf die Bühne gehen dürfen. Während der Großteil der Kinder schnell auf die Bühne klettert und der Lärmpegel deutlich ansteigt, drückt Frau L. einigen Kinder grüne gebastelte Blätter in die Hand. Die Kinder mit den Blättern stellen sich an den Rand und wedeln lachend mit den grünen Blättern umher. Andere Kinder fangen an auf der Bühne zu hüpfen und zu toben, weshalb sich die Lehrerin wütend umdreht und mit ernstem lautem Ton sagt, dass sie das sofort abbrechen kann, wenn sich die Kinder nicht benehmen. Sofort sind die Kinder auf der Bühne still und die Lehrerin erklärt den letzten Kindern, wo sie sich hinstellen sollen. Anschließend übergibt sie das Mikrofon R., der die Hauptrolle des Stückes einnimmt und verlässt die Bühne.


Ort: Schulhof             Klasse: 4                    Zeitrahmen: 10 Minuten in der 3. Stunde

Die Kinder stehen mit ihren Fahrrädern in einer Reihe auf dem Schulhof und unterhalten sich dabei grüppchenweise. Herr S. kommt die Treppen zum Schulhof hoch und stellt ein Fahrrad an das hintere Ende der Schlange, wo es ein Kind aufnimmt. Anschließend stellt sich Herr S. seitlich neben die Warteschlange und ruft: „Einmal bitte weiter hinten aufstellen“, während er mit seiner rechten Hand auf die freie Fläche zeigt. Die Kinder schieben nacheinander ihr Fahrrad in die genannte Richtung und stellen sich dort erneut in eine Schlange auf. Während sie sich in Bewegung setzen, erklärt ihnen Herr S., dass es heute um das Vorbeifahren eines Hindernisses geht. In gut hörbaren lauten Ton erklärt er die Vorgehensweise und den Ablauf. Ein Mädchen geht auf Herrn S. zu und sagt ihm, dass ihr Reifen platt ist. Herr S. begleitet das Mädchen zu ihrem Fahrrad zurück und überprüft mit zwei Fingern den angesprochenen Reifen. Die anderen Kinder beginnen erneut damit, sich in Kleingruppen zu unterhalten. Herr S. kehrt zurück zu seiner Tasche und holt eine Luftpumpe heraus. Anschließend begibt er sich erneut zu dem Fahrrad, kniet sich hin, schraubt die Kappe ab und setzt das Ventil auf. Er beginnt damit Luft zu pumpen, offenbar ohne Erfolg, da er immer wieder neu ansetzt. Nach etwa einer Minute hört er auf und erklärt dem Mädchen, dass das Ventil nicht passt und er deshalb den Reifen nicht reparieren kann. Er fragt sie, ob sie sich mit einem anderen Kind heute das Fahrrad teilen kann und ob sie ihren Eltern bitten kann, dass Fahrrad zu reparieren. Das Mädchen nickt, sieht dabei aber enttäuscht aus. Herr S. steht wieder auf und spricht A. an, welche im Unterricht neben dem Mädchen sitzt und fragt diese, ob sie sich zusammen das Fahrrad teilen können. A. nickt und Herr S. geht zurück zur Fahrbahn, auf der er anschließend Pylonen aufstellt, welche ein Auto darstellen sollen. Nun stellt sich der Lehrer gegenüber von den Pylonen auf und ruft dem ersten Kind in der Warteschlange zu, dass dieser Losfahren kann. Herr S. beobachtet, wie Z. auf ihr Fahrrad steigt, den Schulterblick und das Handzeichen macht und auf die Pylonen zufährt. Kurz vorher macht sie erneut einen Schulterblick und ein Handzeichen, zieht in die Mitte der Fahrbahn und fährt eng an den Pylonen vorbei. Dabei sieht sie Herrn S. mit fragendem Blick an. Dieser ruft ihr zu, dass sie beim nächsten Mal mehr Abstand halten soll, wendet sich dem nächsten Kind in der Warteschlange zu und winkt ihn zu sich. K. fährt los, allerdings ohne Handzeichen und Schulterblick. Der Lehrer ruft laut „Stopp“ und K. bleibt stehen. Herr S. bittet ihn mit Schulterblick und Handzeichen anzufahren. K. sieht sich um, macht das Handzeichen, ehe der Herr S. ihn dazu auffordert, nochmal von vorne anzufangen. K. steigt daraufhin ab, schiebt sein Fahrrad an den Anfang der Warteschlange und fährt dort mit dem Aufsteigen fort. Der Lehrer kommentiert diesmal nicht und K. fährt auf die Pylonen zu. Dort macht er erneut Schulterblick und Handzeichen und ordnet sich direkt auf der Gegenfahrbahn ein. Herr S. verzieht das Gesicht, zeigt mit beiden Händen auf die linke Seite und ruft ihm aufgebracht zu, dass nicht sofort auf die andere Fahrbahn fahren kann, weil er überhaupt nicht auf den Gegenverkehr geachtet hat. Anschließend wendet er sich an die anderen Kinder und ruft ihnen zu, dass sie unbedingt vor dem Spurwechsel auf den Gegenverkehr achten müssen.


Ort: Klassenraum      Klasse: 4        Zeitrahmen: 5 Minuten zu Beginn der 3. Stunde

Herr S. betritt etwa fünf Minuten nach dem Gong die Klasse, welcher das Ende der Pause bekannt gegeben hat. In seiner Hand trägt er einen Stapel Arbeitsblätter und seine Tasche. Einige Kinder räumen das Frühstück von ihren Tischen weg, andere setzen sich auf ihren üblichen Sitzplatz. Eine Gruppe von drei Mädchen und zwei Jungen, die sich in der Abwesenheit des Lehrers energisch über ein Fußballspiel in der Pause unterhalten haben, folgen Herrn S. zu dessen Schreibtisch, der direkt neben der Tafel platziert ist. Herr S. setzt sich an sein Pult und sieht die Gruppe von Kindern gespielt verdutzt und überrascht an. „Was ist denn hier los?“, fragt er die Kleingruppe. Ein Mädchen erklärt, dass N. in der Pause den Ball auf das Dach geschossen habe und er sich weigert einen neuen Ball zu besorgen. Die anderen Kinder nicken energisch, bis auf N., der sehr traurig aussieht. Die anderen Kinder an den Tischen sehen nach vorne. Herr S. fragt N. geduldig, ob das stimmen würde. N. nickt langsam und fängt an zu weinen. „Okay,“ fährt Herr S. in ruhigem Ton fort;“ wir können gleich in Ruhe draußen mal darüber reden. Ich möchte nur jetzt mal kurz die Stunde beginnen. Aber ihr könnt euch ja solange mal überlegen, ob es wirklich nötig ist, für die letzten zwei Wochen noch einen neuen Ball zu haben. Ihr habt doch noch welche, oder?“ Die Kinder nicken, Herr S. sieht N. aufmunternd an. Die Kinder setzen sich auf die freien Plätze im Raum, an denen sie üblicherweise auch sitzen. Herr S. nimmt einen Stift und schlägt zweimal auf eine Klangschale links neben ihm. Die Kinder schauen zur Tafel und der Lärmpegel der Klasse flacht abrupt ab. Der Lehrer, weiterhin an seinem Tisch sitzend, sagt gut hörbar und mit Blick auf die Kinder: „Wir machen heute in unseren Zirkel-Heften weiter. Viele von euch sind ja schon sehr weit, weshalb ich noch ein paar Profi-Hefte mitgenommen habe, die ihr euch bei mir abholen könnt, wenn ihr fertig seid. Wenn ihr Hilfe braucht, könnt ihr euch einfach melden und Herr Stein oder ich kommen zu euch.“ Die Kinder öffnen ihr Heft und wenden den Blick von Herrn S. ab.


Analytische Dimensionierung

Es wurden verschiedene Beobachtungssequenzen ausgewählt, in denen die Lehrkräfte auf unterschiedliche Weise gefordert wurden. Im Folgenden sollen die dichten Beschreibungen nacheinander analysiert werden, im Hinblick auf das (Rollen-) Verhalten der Lehrkräfte und auf mögliche Handlungsprobleme, die dabei entstehen.

Angefangen sei an dieser Stelle mit der ersten Beobachtungssequenz, bei der ein Einstieg in eine Sachunterrichtsstunde der dritten Klasse beschrieben wurde. Die Lehrkraft steht versetzt vor der Tafel, an denen verschiedene Karten von Deutschland aufgestellt wurden. Der Einstieg musste zunächst von der Lehrkraft räumlich vorbereitet werden. Darüber hinaus hat sie antizipiert, dass das Präsentieren einer topographischen und einer politischen Karte hilfreich für die Kinder sein wird. Zum einen, um die verschiedenen Kartenvarianten miteinander vergleichen zu können, zum anderen, um mit der politischen Karte eine Hilfestellung zu geben, die bei der Analyse der topographischen Karte helfen kann. Es lässt sich zunächst also einmal feststellen, dass Lehrkräfte organisieren müssen. Die Lehrerin hat in diesem Fall einen konkreten Plan, wie der Lernfortschritt in dieser Phase aufgebaut werden soll. Um dies umsetzen zu können, muss sich die Lehrkraft mit der Thematik, dem Material und auch ihrer Lernumgebung sehr gut auskennen. Indem sie zwei verschiedene Karten aufstellt, rechnet sie damit, dass nicht alle Bedeutungen der topographischen Karte sofort erfasst werden können. Durch gezielte Fragestellungen und Vergleiche mit der politischen Karte, leitet die Lehrkraft die Schülerschaft schließlich zum Erkenntnisgewinn.


Ein erster Bruch in ihrem geplanten Stundenverlauf ergibt sich daraus, dass einige Kinder sich leise miteinander unterhalten. Der Gong, welcher sie nach vorne schauen lässt, ist als Ritual etabliert, um für Ruhe und Aufmerksamkeit zu sorgen. Classroom-Management ist ein essenzieller Bestandteil in Bezug auf die Organisation der Klasse und kann die Lehrkraft in ihrer Arbeit entlasten. Statt den Ton anheben zu müssen und einzelne Kinder zu konfrontieren, schlägt die Lehrkraft gegen die Klangschale und erinnert exemplarisch ein Kind souverän an die Regel, dass man sich im Unterricht leise verhalten soll. Die Lehrkraft vermittelt dabei ein Gefühl der Allgegenwärtigkeit, was den SuS verdeutlichen soll, „dass sie über die Vorgänge im Klassenzimmer informiert ist und, falls nötig, reagieren wird“ (Saalfrank/Kollmannsberger 2017, S. 151). Dies ist essentiell dafür, die gesamte Klasse zur Mitarbeit zu mobilisieren und kognitiv zu aktivieren. Im Anschluss setzt sie das Frage-Antwort-Spiel im Plenum fort und greift erneut ihre Frage auf. Die Lehrkraft formuliert im Plenum thematische Fragen, welche die Kinder nach Zuteilung des Rederechts beantworten sollen. Interessant hierbei ist die Widersprüchlichkeit der Situation. Die Lehrkraft agiert in einer machthöheren Position als die Kinder: Sie verfügt über größere Wissbestände, zeigt sich dominant und hat das alleinige Rederecht, welches sie bei Fragen beliebig abgeben kann. Gleichzeitig ist sie jedoch auf die Kooperation der SuS angewiesen, da sie den Lernfortschritt und eine aktive, zustimmende Haltung am Unterrichtsgeschehen nicht erzwingen kann. Helsper bezeichnet dies als Symmetrieantinomie. In der Beobachtungssequenz lässt sich die Schülerschaft jedoch auf den Unterricht ein. Vermutlich teils aus Angst vor Sanktionen durch die Lehrkraft, teils aus Interesse und Wissbegierigkeit und teils um die Schülerrolle zu erfüllen und der Lehrkraft positiv zu imponieren. Darüber hinaus bietet eine Teilnahme am Frage-Antwort-Spiel die Möglichkeit, sich durch eine Antwort soziale Aufmerksamkeit im Klassenraum zu sichern.


Während des Frage-Antwort-Spiels formuliert die Lehrkraft zudem immer wieder Unterstützungsmöglichkeiten durch gezielte Fragestellungen[5]. Dies zeigt die bereits angesprochene Rolle als Experte bzw. Expertin sowohl für das Fach, als auch für den Lernfortschritt der Kinder. Die Beobachtungssequenz endet damit, dass die Lehrkraft das Material vorstellt und die Arbeitsphase organisiert. Dabei differenziert sie, indem sie einigen Kindern eine Fühlkarte zuteilt, bei der die Höhen- und Tiefenunterschiede Deutschlands ertastbar sind. Die anderen Kinder werden angewiesen, mit einem Atlas die Fragen zu beantworten. Indem die Lehrkraft differenziert, ist sie diagnostisch und fördernd tätig. Sie identifiziert zunächst als Expertin des Materials mögliche Schwierigkeiten und bezieht diese auf ihre Lerngruppe. Im Anschluss bietet sie in Form der Fühlkarten eine Unterstützungsmöglichkeit an, welche sie spezifischen Kindern zuteilt.


Bei der zweiten Beobachtungssequenz handelt es sich um eine besondere Unterrichtssituation, in welcher die Lehrkraft weniger vermittelnd tätig ist, sondern eher erzieherisch und organisatorisch. Das Stundenthema lautet, ein Theaterstück auf der Bühne zu proben, auf welcher es im kommenden Schuljahr präsentiert werden soll. Zuvor wurden bereits die Besetzungen verteilt, es wurde der Text geübt und das Theaterstück wurde bereits einige Male durchgespielt. Für die Kinder ist es ein atypisches Unterrichtssetting, da sie zum einen „lose“ in der Aula sitzen und nicht wie gewohnt an ihren festen Sitzplätzen im Klassenraum, zum anderen, weil die Lehrkraft in ein Mikrofon spricht. Zunächst leitet sie die Unterrichtsstunde ein, indem sie das Thema der Stunde formuliert. Zwei Jungen zeigen als Reaktion darauf ein unerwünschtes Verhalten, da sie der Lehrerin die gewünschte bzw. erwartete Konzentration nicht entgegenbringen. Die Lehrkraft sanktioniert dies, indem sie mit ihrem Blick und dem Unterbrechen der Einleitung die kollektive Aufmerksamkeit auf die beiden Schüler lenkt. Da nun die gesamte Klasse darauf wartet, dass die Unterrichtsmoderation fortgesetzt werden kann, werden sie selbst dazu angeleitet, die Ruhestörung zu unterbinden. Als ein dritter Junge die sich unterhaltenden Kinder unterbricht und sie auf die Unterrichtsstörung hinweist, bedankt sich die Lehrerin bei ihm dafür. Positives Verhalten bzw. eine gelungene Übernahme des Schülerjobs werden positiv gewertet und auch hervorgehoben, während unerwünschte Verhaltensweisen von der Lehrkraft sanktioniert werden. Kurz darauf zeigt sich die Lehrerin erneut dominant, indem sie die Kinder, welche zu früh die Bühne betreten haben, wieder auf ihre Plätze verweist. Die Lehrerin ist dabei erneut erzieherisch tätig, indem sie mit der Sanktionierung darauf aufmerksam macht, dass die Lehrerin bestimmt, wann in die nächste Unterrichtsphase übergeleitet wird. Sie unterstreicht dabei gleichermaßen ihren Anspruch als Leiterin des Unterrichtsgeschehens. Erst als sie den Kindern das Recht verbal erteilt, nun auf die Bühne zu gehen, toleriert sie das „stürmische“ Vorgehen der Kinder.

Im Folgenden kommt es jedoch erneut zu unerwünschten Verhaltensweisen vonseiten der Kinder. Die Lehrkraft, als Organisatorin des Unterrichts bzw. Theaterstücks, hat im Vorfeld der Unterrichtseinheit Blätter ausgeschnitten, welche als Requisiten dienen sollen. Die Blätter werden jedoch einigen Kinder als Spielzeug gebraucht und die Bühne wird als Ort zum Toben umgewandelt. Das Verhalten der Kinder ist dadurch zu interpretieren, dass die Aufmerksamkeit der Lehrkraft zum einen auf dem Verteilen der Requisiten ist. Da der kontrollierende Blick entfällt, gibt es mehr Raum für intragenerationale Interaktion und atypische Verhaltensweisen im Unterricht. Zum anderen entfallen Rituale und Strukturen des klassischen Unterrichts aufgrund des Raumwechsel. Im Klassenraum ist Unterricht ritualisiert. Die Bühne hingegen stellt für die Kinder ein neues Setting dar, welches noch nicht mit Regeln aufgeladen ist. Einzig die Anwesenheit und das Handeln der Lehrkraft macht diese Phase zum Unterricht. Durch das wiederholt unerwünschte Verhalten ergreift die Lehrkraft eine härtere Sanktionierung, indem sie die Stimme erhebt und einen Abbruch der Unterrichtsphase androht. Auch hierbei zeigt sich erneut die Widersprüchlichkeit der Situation, in welcher die Lehrkraft agiert. Sie ist trotz ihres dominanten Auftretens darauf angewiesen, dass die Kinder die situativ aufgestellten Regeln und Strukturen annehmen. Erst als diese die gewünschte Haltung übernehmen, gibt die Lehrerin den Unterricht wieder frei. Es lässt sich also feststellen, dass in atypischen Unterrichtsphasen tendenziell mehr eingegriffen werden muss, als beim üblichen Geschehen im Klassenraum. Zwar zeigt sich die Lehrkraft in gewohnten Rollen als Leiter*in, Organisator*in oder Erzieher*in, jedoch muss sie diese in dem Fall mehr unterstreichen.


In der dritten Beobachtungssequenz handelt es sich ebenfalls um eine tendenziell ungewöhnliche Unterrichtseinheit. Zunächst zeigt sich die Lehrkraft in erster Linie als Organisator und Helfer. Er ermöglicht durch das Verteilen der Fahrräder die folgende Unterrichtseinheit, unterstützt einzelne Kinder jedoch auch darin, das Fahrrad die Treppen hoch zu transportieren. Daraufhin erläutert er als Leiter und Moderator die Unterrichtseinheit und erklärt erneut den Ablauf, wie man sich als Radfahrer verhält, wenn man an einem Hindernis vorbeifährt. Die Kinder nehmen ihn dabei als Wissensvermittler und Experte wahr, da er ihnen die Handlungsschritte erklärt, nach denen sie sich verhalten sollen. Die Besonderheit dieser Unterrichtseinheit ist die, dass die Performanz unmittelbar gewertet und kommentiert wird. Zuvor muss der Lehrer jedoch helfend tätig sein, da ein Mädchen einen platten Reifen hat. An dieser Stelle muss er das erste Mal reagieren, da er nicht wie geplant fortfahren kann. Indem er seine Rolle als Helfer und Unterstützer übernimmt, vernachlässigt er gleichzeitig die Rolle des Unterrichtsleiter. An dieser Stelle soll eine Grenze des Lehrerinnen Handelns dargestellt werden. Die bisherigen Ausführungen sollten die Komplexität und Vielseitigkeit des Lehrerinnen Handelns ausreichend skizziert haben. Doch kann eine Lehrkraft nicht allen Rollen bzw. gleichzeitig gerecht werden. In diesem Fall hilft der Lehrer einem Mädchen, muss dabei jedoch die Rolle als Erzieher und Leiter „vernachlässigen“. Das Aufstellen der Pylonen wird verschoben und die kollektive Aufmerksamkeit der Klasse geht ebenfalls verloren, da die Allgegenwärtigkeit der Lehrkraft nicht unterstrichen wird.


Als die Unterrichtsvorbereitung schließlich abgeschlossen ist und die Kinder ihre Radfahrkompetenzen üben sollen, lassen sich zwei interessante Aspekte beobachten. Zum einen besteht nach Helsper eine zentrale Paradoxie des Lehrerinnen Handelns darin, dass man bei der Vermittlung des Lerninhalts eine Balance darin finden muss, die Inhalte wissenschaftlich korrekt, gleichzeitig jedoch auch kindgerecht darzustellen. Dies wird nach Helsper als Sachantinomie bezeichnet und lässt sich ebenso in die Beobachtungssequenz interpretieren. Zwar hat die eigentliche Vermittlung bereits im Vorfeld stattgefunden, jedoch muss die Lehrkraft spontan entscheiden, welche Aspekte sie lobt, kommentiert oder auch nochmal neu durchführen lässt. Bei dem Kind, welches bereits falsch aufgestiegen ist, muss die Lehrkraft umgehend entscheiden, ob sie das Verhalten in diesem Durchgang toleriert[6] oder ob sie es unterbindet[7]. Dies korreliert ebenso mit der Begründungsantinomie nach Helsper, also dem Konflikt sofort handeln zu müssen, dieses handeln jedoch fachlich-pädagogisch auch legitimieren zu können.


Zum anderen entsteht ein Rollenkonflikt aufgrund der Situation, dass die Performanz unmittelbar von der Lehrkraft bewertet wird. Die Lehrkraft stellt für die Kinder einerseits einen Experten dar, sowie einen Unterstützer und ein Vorbild. Andererseits ist die Lehrkraft jedoch auch Bewerter, der in manchen Situationen die Performanz benotet. Der auffällige Blick zur Lehrkraft nach Absolvieren des Hindernisses soll dessen Reaktion einfangen, wie das gezeigte Verhalten nun gewertet wird. Verbesserungsvorschläge der Lehrkraft könnten in dieser Phase sehr persönlich und ernst gewertet werden, sofern die Rollenklarheit nicht transparent ist, dass die Lehrkraft keine offizielle Wertung durchführt.


Die letzte Beobachtungssequenz stellt den Unterrichtsbeginn nach einer großen Pause dar. Die Zeit zwischen Pause und Unterrichtsbeginn wird auch als Schwellenphase bezeichnet, in der die Ereignisse der Pause verarbeitet werden, Peerinteraktionen erfolgen und sich gleichzeitig auf den anstehenden Unterricht vorbereitet wird (Vgl. Wagner-Willi 2018, S. 59). Die Lehrkraft gibt den Kindern in dieser Phase häufig den nötigen Freiraum, um den Verhaltenswechsel von Peer- in Unterrichtsinteraktion zu vollziehen (Vgl. ebd. S. 60). Gleiches lässt sich auch in der Beobachtungssequenz feststellen, da die Kinder in ihrer Peer-Interaktion nicht unmittelbar gestört werden. Eine Kleingruppe sucht die Lehrkraft als Vertrauensperson und Berater auf, um ein Ereignis aus der Pause zu klären. Die Lehrkraft befindet sich dort in einer widersprüchlichen Situation. Mit Blick auf die Klasse muss er den Unterricht eröffnen, um eine Maximierung der Lern- und Übungszeit sicherzustellen. Mit Blick auf die einzelnen Schüler*innen und in Anbetracht seiner Rollenvielfalt muss er den Konflikt klären und beratend tätig sein. Als Berater und Streitschlichter muss er jedoch Rollenklarheit schaffen (Vgl. Schnebel 2017, S. 17), sodass die Beratenden sich nicht vor erzieherischen Konsequenzen fürchten müssen. Nun wird in der Beobachtungssequenz nicht aufgegriffen, inwieweit die Lehrkraft den Konflikt beratend begleitet, ob er einen konkreten Lösungsvorschlag vorgibt oder ob er überhaupt nicht mehr tätig wird, jedoch zeigt bereits das Aufsuchen der Lehrkraft die Existenz dieser Rolle. Die Lehrkraft schlägt in Anbetracht der Situation einen Mittelweg vor, indem er den Kindern eine Lösungsmöglichkeit vorschlägt, über diese sie zunächst nachdenken können, ehe sie die Möglichkeit bekommen, den Konflikt in Ruhe nochmal klären zu können. Die Situation zeigt, dass Lehrkräfte häufig in Situationen kommen, in denen verschiedene Aufgaben bzw. Rollenerwartungen an sie geknüpft werden, die sie unmöglich simultan übernehmen können. In der Beobachtung muss die Lehrkraft spontan handeln und sich dazu entscheiden, in welcher Weise er sich an den individuellen Bedürfnissen einzelner Kinder orientiert und inwieweit er sich am Kollektiv orientiert und eine distanziertere Rolle einnimmt, die von ihm als Klassenleiter erwartet wird[8]. Der skizzierte Nähe vs. Distanz Konflikt im Verhalten der Lehrkraft wird von Helsper als Näheantinomie bezeichnet.


Final ist festzuhalten, dass sich aus den unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Aufgabenbereichen, Erwartungshandlungen, etc. verschiedene Rollen im Handeln der Lehrkraft ergeben, die mal näher und mal distanzierter am Individuum sind. Das Einnehmen, Handeln oder Wechseln einer Rolle ist fließend und geschieht meist unbewusst. Ein wesentlicher Faktor dafür ist, dass es keine klare Definition für einzelnes Rollenverhalten gibt. Man kann in eine Vielzahl von Verhaltensweisen Rollen interpretieren, die nicht unbedingt klar abgrenzbar sind. Doch auch wenn Lehrkräfte instinktiv in jeweiligen Rollen handeln müssen, sollte sich bewusst gemacht werden, dass nicht immer alle erfüllt werden können oder von den SuS akzeptiert werden. Eine forschend-reflexive Grundhaltung ist unter anderem deshalb für das Verhalten einer Lehrkraft essentiell.

Fazit

Im Rahmen dieser Ausarbeitung sollte das (Rollen-) Verhalten von Lehrkräften beobachtet und interpretiert werden. Es konnten verschiedene Rollenerwartungen, Verhaltensweisen und Aufgabenbereiche herausgearbeitet werden, jedoch hat dies keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Um die Komplexität des Lehrerinnen Handelns ausreichend genug bestimmen zu können, bedarf es eines längeren Forschungszeitraums mit weiteren Vergleichsgruppen. Dazu kommt, dass ich in meiner eigenen Rolle im Feld während des Beobachtungsprozesses in einer widersprüchlichen Situation war. Ich war gleichermaßen in das Feld integriert und war an der Aufrechterhaltung der unbewussten Strukturen beteiligt, sowie ich eine distanzierte Rolle von außen einnehmen wollte. Um effektiver eine befremdete Perspektive auf das Feld einnehmen zu können, würde ich den Großteil meiner Beobachtungen beim nächsten Mal früher machen, wenn ich weniger in das Feld integriert bin. Gleichermaßen hilfreich war jedoch die Befremdung der Strukturen und der „Blick von außen“ für meine eigene Reflexion. Eine reflexive Auseinandersetzung mit den Strukturen und Widersprüchen meines eigenen Handelns hilft mir als angehende Lehrkraft, die Perspektive der SuS besser nachvollziehen zu können und mich auf meinen eigenen Unterricht besser vorbereiten zu können.


Wo würde ich weiterforschen? Während meiner Analyse habe ich mich besonders auf die Symmetrieantinomie nach Helsper immer wieder bezogen. Die Lehrkraft in einer machthöheren Position ist auf die Zustimmung der SuS angewiesen. In den Beobachtungssequenzen wurden unerwünschte Verhaltensweisen stets sanktioniert und haben ein Zurückfallen in die Schülerrolle beim Individuum bewirkt. Interessant wäre es das Handeln der Lehrkraft zu beobachten, wenn die Akzeptanz bei der Schülerschaft nicht unmittelbar umgesetzt wird. Welche Möglichkeiten hat die Lehrkraft, wenn die Mobilisierung der Klasse nicht gelingt und die eigene Position nicht durchgesetzt wird.


Zudem wäre es interessant herauszuarbeiten, wie Lehrkräfte an anderen Schulformen handeln. Gelten für Gymnasiallehrkräfte die gleichen Rollenerwartungen wie für Lehrkräfte an der Grundschule? Denn mit zunehmendem Alter der Schülerschafft sollte die Lehrkraft mehr als professioneller Akteur und weniger als unmittelbare Bezugsperson wahrgenommen werden. Und welches (Rollen-) Verhalten entsteht bei Lehrkräften an demokratischen Schulen, an denen das Machtungleichgewicht aufgehoben werden soll. Die Kinder organisieren an solchen Schulformen ihren Alltag selbst und sind an keinen Unterricht gebunden. Welche Rollenerwartungen lassen sich dabei an die Lehrkraft bzw. den Lernbegleiter herausstellen?

Literaturverzeichnis

Budde, Jürgen (2010): Inszenierte Mitbestimmung?! Soziale und demokratische Kompetenzen im schulischen Alltag. In: Zeitschrift für Pädagogik , S. 384-401.


Heinzel, Friederike (2012): Der Blick auf Kinder. In: Heike de Boer/ Sabine Reh: Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen. S. 173-188.


Helsper, Werner (2021): Professionalität und Professionalisierung pädagogischen Handelns: Eine Einführung.


Kowalski, Marlene (2020): Nähe, Distanz und Anerkennung in pädagogischen Beziehungen. Wiesbaden.


Rollenbild (o.D.): updatenet.net: https://updatenet.net/artikel/rollenbild/#quellen-ressourcen-links (Abrufdatum: 20.09.2022)


Saalfrank, Wolf-Thorsten/  Kollmannsberger, Markus (2017): Praxisleitfaden Lehrerhandeln. Weinheim.


Schnebel, Stefanie (2017): Professionell beraten: Beratungskompetenz in der Schule. Weinheim und Basel.


Wagner-Willi, Monika (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In: Jürg Brühlmann/ Deborah Conversano (HG.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt. S. 58-63.


Wiesemann, Jutta (2011): Ethnographische Forschung im Kontext von Schule. In: Heinz Moser (Hg.): Forschung in der Lehrerbildung. Baltmannsweiler, S. 167-185.





[1] Die beiden genannten Antinomien greifen meines Erachtens eng ineinander, da das Hierarchiegefälle zwischen Lehrkraft und Schülerschaft (Symmetrieantinomie) eine wesentliche Bedeutung für den Nähe vs. Distanz – Konflikt spielt (Näheantinomie), bei dem die Lehrkraft eine Vertrauens- und Bezugsperson für die Kinder darstellt, gleichzeitig jedoch professionelle Distant wahren muss, um dem Bildungsauftrag gerecht werden zu können.

[2] Es kann davon ausgegangen werden, dass Regeln und Strukturen des Alltagshandelns den Akteuren sozialer Situationen meist nicht bewusst sind (Vgl. Wiesemann 2011, S. 168).

[3] Anders als der Klassenlehrer etablierte ich in meinem eigenen Unterricht häufig den Sitzkreis als Unterrichtsform. Zunächst nutzen viele Kinder den Kreis als Chance, um sich während des Unterrichts neben ihre Freunde setzen zu können, was häufig auch zu Phasen mangelnder Konzentration führte. Indem ich manche Verhaltensweisen mit Blicken oder Ermahnungen sanktionierte, wurde ein unausgesprochener Regelkatalog formuliert, wie man sich im Sitzkreis verhalten sollte.

[4] Meines Erachtens waren die Leistungsunterschiede in der zweiten Klasse aufgrund des coronageplagten ersten Schuljahres teilweise sehr extrem. Während einige Kinder schon sehr weit in ihren mathematischen und literarischen Kompetenzen waren, taten sich andere Kinder beim Lesen, Schreiben und Rechnen sehr schwer. Dementsprechend groß war die Herausforderung für die Lehrkraft, den individuellen Leistungsunterschieden gerecht zu werden.

[5] Z.B. „Auf der politischen Karte könnt ihr die roten Linien besser sehen. Was haben sie zu bedeuten?“, während die Lehrkraft mit ihrem Finger über die angesprochene Linie fährt.

[6] Entspricht der Kindgerechtheit, wenn man davon ausgeht, dass Kinder nicht unbedingt Kompetenz in Performanz umwandeln können. Man könnte von außen auch argumentieren, dass ein verbales Kommentieren in der ersten Runde ausgereicht hätte.

[7] Entspricht der Wissenschaftstreue. Falsches Aufsteigen im Straßenverkehr ist gefährlich und der klar besprochene Ablauf wird auch in der Performanz erwartet.

[8] Die Lehrkraft muss den Unterricht beginnen, damit die essentielle Übungszeit eingeleitet werden kann.

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