Zur 2. Beschreibung – Spielkultur und Geschlecht
Die dichte Beschreibung beginnt mit Beobachtungen am Waschbecken und am Schulranzenregal, an denen noch SuS stehen und sich unterhalten, während sie Hände waschen oder ihr Frühstück auspacken. Anknüpfend an die erste Beschreibung lässt sich auch hier wieder der flüchtige soziale Ort Begegnung erkennen (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Die Kinder nutzen den kurzen Moment der Begegnung, um mit ihren Mitschüler/innen Kontakt aufzunehmen. Die darauffolgende Szene weist eine ganz neue Analysekategorie auf, die sich in der ersten Beschreibung nicht beobachten ließ und zwar die der Spielkultur der Peers. Pia läuft nach dem Händewasche zu ihrem Schulranzen und holt mehrere Pop Its aus ihrer Tasche. Dies verkündet sie der Klasse unverzüglich und lautstark. Da kein Kind fragt, was das sei, lässt sich vermuten, dass das Spielzeug Pop It bereits Teil ihrer Peerkultur ist und aufgrund dessen alle Kinder mit dem Spielzeug vertraut sind. Hier lässt sich eine Verschmelzung der konjunktiven Erfahrungswelt der Peers mit der der Schule erkennen. Die Spielzeit innerhalb der Schulzeit ist begrenzt. Dabei gibt die Frühstückspause ein Zeitkontingent von 15 Minuten vor, das die Kinde zum Spielen und zum Frühstücken nutzen dürfen. Die schnellen Bewegungen Pias, ihr Rennen und ihr hektisches Kramen im Schulranzen lässt vermuten, dass sie diese ihr zur Verfügung stehende „Spielzeit“, optimal nutzen möchte und dabei keine Zeit verschwenden will. Das Verteilen der Pop Its an ihre Mitschüler/innen kann hier auch wieder als Wunsch nach sozialer Anerkennung gedeutet werden, wie es in der ersten Beschreibung bei Lukas der Fall war sowie als eine Form des sozialen Austauschs. Während Pia die Pop Its verteilt, laufen Mehmet und Tom ohne Maske durch die Klasse. Dabei werden sie von ihren Peers direkt ermahnt. Trotz Pause gelten hier also, wie auch schon in der ersten Beobachtung beschrieben, Regeln. die anscheinend von allen SuS akzeptiert werden, denn die beiden holen ihre Maske unverzüglich nach der Ermahnung von ihren Plätzen. Als ich Yasmin frage, was das für ein Spielzeug sei und wofür man dies brauche erklärt sie mir das Ganze ausführlich. Sie lässt mich für kurze Zeit ein Teil ihrer Peerwelt sein, gibt mir das Pop It in die Hand und lässt mich auch einmal damit spielen. Dabei erklärt sie mir die Funktion und Sinnhaftigkeit. In der Zwischenzeit bilden sich verschiedene Gruppen, wobei eine Gruppe im vorderen Teil der Klasse auffällt. Einige Kinder stehen um den Tisch von Elodie und Sascha herum. Die beiden haben angefangen, miteinander und mit zwei Pop Its von Pia zu spielen und werden von ihren Zuschauern angefeuert. Für das Spiel von Elodie und Sascha braucht es dem Anschein nach also nur zwei Mitspieler/innen. Ihr Tisch ist dabei zum Spielfeld geworden. Innerhalb der Spielgemeinschaft haben sich zwei Gruppen gebildet. zum einen die der Spieler und zum anderen die der Zuschauer. Die Zuschauer bilden dabei den Rahmen des spezifischen und unwiederholbaren Ereignisses und werden auf diese Weise zu einem Teil der Spielgemeinschaft (vgl. Tervooren, 2001, S. 234). Ein ähnliches Verhalten des „miteinander Spielens“ zeigt sich auch in der darauffolgenden Szene. Elena und Tom unterhalten sich darüber, wer mehr Pop Its zu Hause habe. Dabei wird die Diskussion durch Tom, mit seinem Vorschlag, das Ganze in einem Duell auszutragen, in ein Spiel überführt. Hier gilt es anzumerken, dass der Ausgang dieses Spiels keine Antwort auf diese Frage bietet. Möglicherweise nutzt Tom den Vorschlag nur als Vorwand, um endlich mit dem Spielen anzufangen und damit die Diskussion zu beenden. Dabei organisiert das Spiel eine Entscheidung mithilfe eines Wettkampfes (vgl. ebd., S.228). Bei der Szene kommt aber noch eine andere Kategorie, die bis jetzt noch nicht berücksichtigt wurde, zum Tragen. Die Kategorie des Geschlechts. Zum einen ist erkennbar, dass Tom und Elena in geschlechterhomogenen Gruppen beieinander stehen, die zunächst in keiner Interaktion zueinander stehen. Die Gruppen unterhalten sich zunächst in ihrer eigenen Kleinwelt, deren Kommunikation ausschließlich auf die Teilnehmer dieser Gruppe begrenzt ist (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Eine Erklärung für die geschlechterhomogenen Gruppen könnte Freundschaft sein. Diese Vermutung ergibt sich durch andere Beschreibungen außerhalb dieser Arbeit und basiert darauf, dass sowohl die genannten Mädchen als auch die genannten Jungen oft die Pause miteinander verbringen und miteinander spielen. Zudem scheint Geschlecht eine Art interessengeleitete Gruppe zu sein. Wobei an den Pop Its beide Geschlechter gleich viel Interesse zeigen. Der Kontakt zwischen den beiden Geschlechtergruppen wird erst durch Toms Einmischen in Elenas und mein Gespräch hergestellt, als er behauptet, mehr Pop Its zu Hause zu haben als Elena. Diese Bemerkung könnte man als eine Art Prahlen vor den eigenen Peers interpretieren, ob diese eventuell nur geschieht, um der Mädchengruppe zu imponieren, lässt sich an dieser Stelle nicht sagen. Tom schlägt ein Duell Jungen gegen Mädchen vor. Dieses Duell beinhaltet eine Konkurrenz der beiden Geschlechter. Das plötzliche Beziehen Toms auf das Geschlecht zwingt die Kinder automatisch, sich an Geschlechternormen zu orientieren (vgl. Tervooren, 2001, S. 243). Nach dem Beschluss, das Duell durchzuführen, schlägt Tom mich als Schiedsrichterin vor. Möglicherweise, weil er der gegnerischen Gruppe nicht vertraut oder einfach nur, weil ein/ein Schiedsrichter/in zu einem „richtigen“ Spiel dazugehört. Der erste Wettkampf wird zwischen Tom und Elena ausgerichtet. Toms Sieg kommentiert Emre. Die Aussage Emres impliziert, dass Jungs in allen Sachen besser seien als Mädchen, allerdings lässt sich vermuten, dass Emre die Aussage ausschließlich im Kontext des Spiels gewählt habe und diese nicht als allgemeingültig verstanden werden muss. Dennoch lässt er mit seinen Worten eine Hierarchie zwischen den beiden Geschlechtern entstehen. Es scheint aber, als sei das der Mädchengruppe egal, denn sie reagieren nicht wütend auf die Aussage. Ganz im Gegenteil, sie lachen die ganze Zeit und verteidigen sich ausschließlich verbal. Auch fahren sie danach gleich mit einem Platzwechsel und somit mit dem Spiel fort. Nach Elena und Tom sind Linn und Emre an der Reihe. Sie werden so vom Zuschauer zum Mitspieler. Durch das Spiel bildet sich eine temporäre geschlechterheterogene Gemeinschaft zwischen den beiden Gruppen (vgl. ebd., S. 230). Das Verhalten von Gizem habt sich von dem Verhalten ihrer Peers ab. Sie hat weder die Rolle einer Zuschauerin noch die einer Mitspielerin eingenommen. Sie sitzt alleine an einem Doppeltisch und malt ein Mandala aus. Hier lässt sich noch ein weiterer sozialer Raum erkennen, der in der ersten Beschreibung nicht beobachtet werden konnte. Der soziale Ort der„Für-Sich-Welt“ (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 102). Gizem weist keine Interaktion mit ihren Peers auf und es scheint, als würde sie das auch nicht anstreben. Als Anna sich neben Gizem setzt, lächelt sie diese nur kurz an und widmet sich dann wieder ihrer eigenen Welt, dem Mandala. Es scheint, als sei Gizem kein Teil der Peerkultur innerhalb der Klassengemeinschaft. Es lässt sich nicht erkennen, warum das so sein sollte. Beobachtungen außerhalb dieser Arbeit haben allerdings gezeigt, das Gizem sehr wohl einen Platz innerhalb der Klassengemeinschaft hat, sich aber oft sehr ruhig und zurückhaltend verhält. Sie wirkt jedoch dennoch sehr zufrieden und glücklich. Ob sie sich nun in der von mir beobachteten Szene aus der Peergemeinschaft zurückzieht, weil sie vielleicht einen Streit mit ihren Freunden hatte oder einfach nur, weil sie die Pause zum Frühstücken nutzen möchte, lässt sich nicht sagen. Als die Klassenlehrerin kurz vorm Ende der Stunde in die Klasse kommt, schenken die meisten SuS ihr keine Aufmerksamkeit. Nur wenige Kinder der Spielgruppen schauen kurz auf und fahren danach direkt wieder unbeirrt fort. Es scheint so, als seien die meisten SuS in ihre besondere Welt des Spiels versunken, und als würden sie das Geschehen um sie herum kaum mehr wahrnehmen. Trotz dem Eintreten der Klassenlehrerin halten die Peers die Vorderbühne aufrecht und der institutionelle Kontext wird durch sie in der Zwischenzeit ausgeblendet. Es lässt vermuten, dass sie sich in einer Art Spielrausch befinden, der sie alles um sich herum vergessen lässt (vgl. Tervooren, 2001, S. 247). Dieser Spielrausch hält noch so lange an, bis die Klassenlehrerin die SuS daran erinnert, langsam zum Ende der Frühstückspause zu kommen. Gefrühstückt hat in dieser Pause kaum jemand, die meisten Brotdosen sind noch gefüllt, als die SuS diese wieder zurück in ihre Schulranzen räumen. Pia läuft durch die Klasse und sammelt ihre Pop Its wieder ein. Ihre Mitschüler/innen geben ihr diese unaufgefordert zurück. Was zeigt, dass die SuS sehr wahrscheinlich wissen, dass die Pop Its Eigentum von Pia sind. Mit dem Pausengong und dem Wegpacken der letzten Spielzeuge beginnt die Klassenlehrerin den Unterricht.