Einleitung
„Wochenplanarbeit ist ein Konzept der Unterrichtsstrukturierung und Unterrichtsorganisation. Sie findet auf der Grundlage der gültigen Curricula statt und ist somit auch lernzielbezogener Unterricht. […] [Wochenpläne] sind ein Instrument des Offenen Unterrichts und erheben den Anspruch, schulische Lernprozesse effektiver und nachhaltiger zu gestalten.“ (Vaupel, 2010, S.75)
Die Wochenplanarbeit ermöglicht jeder/jedem Lernenden Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Arbeitsorganisation und Sozialform. Das bedeutet, dass jede/r Lernende in ihrem bzw. seinem individuellen Lerntempo, in der von ihr/ihm gewählten Reihenfolge und Sozialform die gegebenen Pflicht- und Wahlaufgaben bearbeiten darf. Das ist die Basis an Mitbestimmung, die jeden Wochenplan auszeichnet. Je nach Grad der Öffnung des Unterrichts können zusätzliche Optionen der methodischen und inhaltlichen Partizipation der Schülerinnen und Schüler hinzukommen bis hin zur Erstellung des eigenen Wochenplans. Das Ziel der zunehmenden Mitgestaltung betont auch Vaupel: „Wochenpläne müssen mit den Schülern weiterentwickelt werden, um den Unterricht immer mehr zu öffnen. Aus der geschlossenen Form werden im Verlaufe der Zeit Pläne, die gemeinsam mit den Lernenden oder gar von ihnen allein aufgestellt werden.“ (ebd., S.75)
Der Autor erklärt weiter, „dass sich Lernen eigentlich nicht so organisieren lässt, dass alle Schüler zum gleichen Zeitpunkt an den gleichen Aufgaben das Gleiche lernen“ (ebd., S.79) Das Arbeiten mit dem Wochenplan eröffnet Möglichkeiten an die individuellen Lernvoraussetzungen der Kinder anzuknüpfen. Vaupel beschreibt das als ein „zentrales Handlungsmuster der inneren Differenzierung.“ (ebd., S.79) Das bedeutet, dass in einer heterogenen Lerngruppe jede/r Lernende das Lernziel auf ihrem/seinem individuellen Lernweg und durch Aktivierung der ihr/ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen erreichen kann. Der Wochenplan ermöglicht diesbezüglich Entscheidungsfreiheiten in Bezug auf das Arbeitstempo, die Reihenfolge der Bearbeitung und die Sozialform (ggf. auch bezüglich der Materialien und den Ort des Lernens). Zudem bietet ein breites Repertoire an Pflicht- und Wahlaufgaben weitere Chancen zur individuellen Differenzierung.
Ein weiterer Aspekt lässt sich an der veränderten Lehrerrolle festmachen. Da die Schülerinnen und Schüler während der Wochenplanarbeit überwiegend selbstständig arbeiten, kommt der Lehrperson die Rolle eines Lernbegleiters, eines Beraters und Beobachters der individuellen Lernprozesse zu. „In dieser anderen Rolle bekommt man einen neuen Blick für besondere Lern- und Verhaltensprobleme von Schülerinnen und Schülern.“ (ebd., S.80) Mit der Arbeit am Wochenplan geht ebenso eine neue Schülerrolle einher. Jede/r Lernende ist für ihren/seinen individuellen Lernprozess verantwortlich. Das verlangt den Kindern ein hohes Maß an Disziplin und Selbstständigkeit ab. Zusätzlich fungieren SchülerInnen als Lernpartner, Lernhelfer oder Diskussionspartner, um sich über die unterschiedlichen Zugangsweisen einer Problemstellung auszutauschen. Die Lernenden müssen bis zu einem gewissen Grad die Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen.
Ziel dieser ethnographischen Mikrostudie ist die Erforschung schulischer Mikroprozesse zu Praktiken des Lehrens und Lernens, unter denen laut Heinzel „die alltäglichen Handlungen und Interaktionen in der Schule verstanden [werden].“ (Heinzel, 2010, S.40) Der Fokus meiner Feldforschung liegt auf den Handlungspraktiken der schulischen AkteurInnen während der Wochenplanarbeit, welche ich im Rahmen meines Praxissemesters an einer Grundschule beobachten konnte. Ein besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den ErstklässlerInnen. Es soll versucht werden zu rekonstruieren, wie insbesondere die SchulanfängerInnen, die aus dem oftmals wohlbehüteten Umfeld eines Kindergartens (mit klar strukturierten Tagesplan und einer Erzieherin/einem Erzieher als Entscheidungsinstanz) stammen, mit dieser Form des individuellen Lernens und den damit einhergehenden Freiheiten umgehen.
Mein methodisches Vorgehen
Zunächst soll die dieser Studie zugrunde liegende methodische Vorgehensweise etwas näher erläutert werden, um ein grundlegendes Verständnis für die ethnographische Feldforschung und damit einhergehende Chancen und Herausforderungen zu schaffen.
Die Ethnographie ist eine qualitative Forschungsmethode, die ihren Ursprung in der Anthropologie hat. Diese empirische Forschungskultur wurde spätestens ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zum dominierenden Paradigma der sozialwissenschaftlichen Forschung. (vgl. Thole, 2010, S.18) Im Gegensatz zur quantitativ-experimentellen Empirie lag der Fokus dieser Forschungsmethode schon früh auf dem „Verstehen von gesellschaftlichen Wirklichkeiten über die exemplarische Analyse von Einzelfällen mit dem Ziel, soziale Realitäten subjekt- und situationsspezifisch zu rekonstruieren.“ (ebd., S.18) Eine klassische ethnographische Forschungsstrategie ist die Teilnehmende Beobachtung. Sie zielt darauf ab das alltägliche Leben zu beobachten, indem sie versucht durch die Untersuchung möglichst wenig einzugreifen oder zu verändern. (vgl. ebd., S.29)
Vorteil dieser ethnographischen Forschungsstrategie ist das Erfassen des Feldes als Ganzes sowie der Interpretationen und Alltagsdeutungen der AkteurInnen einer sozialen Praxis nah am Geschehen. (vgl. ebd., S.30) Auf mögliche Herausforderungen ethnographischer Studien machte bereits der Soziologe Pierre Bourdieu aufmerksam: „Sobald wir die gesellschaftliche Umwelt beobachten, ist unsere Wahrnehmung dieser Welt von einem ‚Bias‘ beeinträchtigt, der an den Umstand gebunden ist, [daß] wir, um die Welt studieren, beschreiben und von ihr sprechen zu können, mehr oder weniger vollständig von ihr abstrahieren müssen.“ (Bourdieu, 1993, S.370) Daher erweist sich besonders die schulpädagogische Feldforschung als sehr schwierig, da die Schule eine Sozialisationsinstanz ist, die jede/r Forschende bereits selbst durchlaufen hat und demzufolge eine von Hirschauer und Amann angeregte „Befremdung der eigenen Kultur“ (Hirschauer/Amann, 1997 in Heinzel, 2010, S.39) nur schwer umsetzbar erscheint. Auf die Herausforderungen schulpädagogischer Empirie macht auch die Autorin Friederike Heinzel aufmerksam: „Das schulpädagogische Feld ist für jede Forscherin und jeden Forscher eine langjährige vertraute soziale Situation mit reichhaltigen biografischen Erfahrungen. Hier können weder fern liegende Kulturen erforscht werden noch Nischen der eigenen Kultur […]. Fremde Welten gibt es hier höchstens dann zu entdecken, wenn sich der Blick auf Phänomene der Peer- und Jugendkultur richtet.“ (Heinzel, 2010, S.39) Breidenstein betont hinsichtlich des Bias von Vertrautheit und Bestreben nach Erkundung einer fremden Welt die Differenz zwischen Teilnehmer- und Beobachterverstehen. (vgl. Breidenstein, 2010, S.207) „Ethnographische Forschung muss sich daran bewähren, dass sie Neues über das scheinbar Vertraute zu sagen hat.“ (ebd., S.207)
Ich habe meine Beobachterrolle ab der 8. Praxissemesterwoche eingenommen, um das Unterrichtsprinzip der Wochenplanarbeit und die TeilnehmerInnen des Feldes zunächst etwas besser kennenzulernen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. „Schließlich erfordert auch der produktive Feldzugang selbst schon Zeit: Zeit, in der man das Vertrauen der Teilnehmer gewinnen und konstruktive Forschungsbeziehungen gestalten kann.“ (Breidenstein, 2010, S.209) Die Beobachtungen erfolgten anfangs nach vorheriger Absprache mit der zuständigen Lehrperson und dann zunehmend spontan, indem ich mich auf eine Situation, die mir erwähnenswert erschien, fokussiert habe. Die Beobachtungen fanden ohne jegliche technische Unterstützung statt. Breidenstein spricht sich für diese natürliche Form der menschlichen Beobachtung aus: „Denn nur der menschliche Beobachter selektiert und interpretiert seine Wahrnehmungen und kann demzufolge auch die eigenen Selektionsleistungen und Interpretationen beobachten und dabei etwas über die Interpretation, die die Teilnahme an der Situation erfordert, und die Selektionen, die sie nahe legt, erfahren.“ (ebd., S.208) Ich habe versucht die Mitschriften während meiner Beobachtungen sehr detailliert anzufertigen, da nicht immer die Möglichkeit bestand mich unmittelbar zurückzuziehen und mit der dichten Beschreibung zu beginnen. Diese erfolgte oftmals erst in der nächsten Pause oder zu Hause. Dabei war ich bemüht die dargestellte Szene so zu beschreiben, dass sie für die Lesenden möglichst genau nachvollziehbar ist. Anschließend habe ich versucht einen Perspektivwechsel zu vollziehen, um die vermeintlich vertraute Situation aus einem anderen Blickwinkel und einer gewissen Distanz zu betrachten. „[…], andererseits sind entscheidende Prozesse der Distanzierung und Analyse unmittelbar an den Akt des Schreibens geknüpft.“ (ebd., S.210)
Reflexion
Nachfolgend soll meine Rolle als Praktikantin und Forscherin und die daraus resultierende Reaktion des Feldes reflektiert werden. Diese Reflexion kann dazu beitragen das eigene Rollenverständnis kritisch zu hinterfragen und daraus gewonnene Erkenntnisse in die spätere Analyse einfließen zu lassen.
Meine Rolle im Feld als Praktikantin und Forscherin
In den ersten sieben Wochen meines Praktikums habe ich ausschließlich die Rolle der Praktikantin eingenommen. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass ich während der Wochenplanarbeitsphase, welche zum gängigen Unterrichtsprinzip der jahrgangsgemischten Klassen 1-4 zählte, als eine Lernbegleiterin fungierte. Diese Rolle war durch eine sehr enge Interaktion mit den SchülerInnen gekennzeichnet, da ich mich in den Arbeitsphasen zwischen den Lernenden, die Hilfestellung benötigten, hin- und herbewegt habe. Außerdem habe ich mich in diesen Phasen einzelnen SchülerInnen zugewandt, die vermehrt auf Unterstützung angewiesen waren. Zudem durfte ich sehr früh anfangen einzelne Unterrichtssequenzen zu übernehmen (z.B. Einführung in eine neue Thematik) und vor allem im Fach Englisch Unterricht unter Begleitung durchzuführen. Den Äußerungen und dem Verhalten der Lernenden konnte ich entnehmen, dass sie mich als eine zusätzliche Lehrkraft wahrgenommen haben. Während meiner Beobachtungen ab der 8. Praxissemesterwoche, habe ich versucht mich aus dem Unterrichtsgeschehen zurückzuziehen und mich auf meine Rolle als Beobachterin zu konzentrieren. Dies habe ich den schulischen AkteurInnen durch das Einnehmen einer räumlichen Distanz sichtbar gemacht, indem ich mich etwas abseits positioniert habe. In meiner Rolle als Beobachterin habe ich versucht, möglichst nicht auf die Schülerinnen und Schüler, die ihren Hilfebedarf durch Melden signalisiert haben, einzugehen. Wenn ein/e Schüler/in ihren/seinen Platz verlassen hat, um mich direkt anzusprechen und meine Hilfe zu erbitten, habe ich sie/ihn an die Lehrkraft verwiesen.
Die Reaktion des „Feldes“ auf meine Rolle als Forscherin
Die SchülerInnen reagierten anfangs einerseits mit großer Neugier auf meine plötzlichen Mitschriften im Unterricht und andererseits mit Unverständnis über mein Zurückziehen aus dem Unterrichtsgeschehen. Schließlich waren sie es bis dato gewöhnt, dass ich als eine Art zusätzliche Lehrkraft fungierte. Daher suchten die Kinder auch immer wieder meine Nähe, um nach dem Grund meiner Mitschriften zu fragen. Ich antwortete zunächst sehr allgemein, dass ich mir einige Notizen für die Uni machen müsse. Ich habe zunächst bewusst auf den Begriff „Beobachtung“ verzichtet, da ich befürchtete, dass sich die TeinehmerInnen des Feldes nicht authentisch verhalten würden, wenn sie sich beobachtet fühlen. Wiesemann bestätigt, dass die Anwesenheit der Beobachterin in der empirischen Forschung häufig als ein methodisches Problem gesehen wird. (vgl. Wiesemann, 2010, S.143) „Sie verfälsche die ‚Natürlichkeit‘ der Situation zugunsten eines stark selbstkontrollierten Verhaltens der Akteure. Die Vorstellung ist dabei, dass die Beobachteten den Beobachtern ‚etwas vormachen‘ und die ‚normalen‘ Verhaltensweisen deshalb nicht beobachtet werden könnten.“ (ebd., S.143)
Doch mir wurde schnell klar, dass sich die Kinder mit meiner Erklärung nicht zufriedengeben, da sie wiederholt versuchten (mehr oder weniger unauffällig) meine Feldnotizen zu lesen. Daraufhin änderte ich meine Vorgehensweise und erklärte den Lernenden, dass ich ihnen beim Lernen zusehen und mir dazu Notizen machen würde. Zwar vermied ich weiterhin die Bezeichnung „Beobachtung“, weil meines subjektiven Empfindens die Tätigkeit als etwas Aufdringliches aufgefasst werden könnte, was ohne das explizite Einverständnis der/des Einzelnen geschieht. Dennoch wussten die Schülerinnen und Schüler ab diesem Zeitpunkt, dass sie im Zentrum meines Interesses stehen. Wiesemann relativiert diesen Vorbehalt, indem sie erklärt, dass gerade das Feld Schule besonders sensibilisiert für alle möglichen Formen der Beobachtung erscheint. Daher sind SchülerInnen nicht nur Objekte der Beobachtung, sondern reihen sich nahtlos in diese Beobachtungskultur ein. (vgl. Wiesemann, 2010, S.145) Das bedeutet, dass man nie nur BeobachterIn ist, sondern auch immer Objekt der Beobachtung. „Forscher beobachten Kinder, die Forscher beobachten.“ (ebd., S.144) Folglich habe ich versucht mich als Teil einer Beobachtungskultur zu verstehen, welcher ein „Wechselspiel aus fortlaufender Beobachtung“ (ebd., S.150) zugrunde liegt. „Die Beobachteten bringen ihr Wissen darüber wie Schule gemacht wird explizit hervor, sobald sie beobachtet werden.“ (ebd., S.150)
Beschreibung der Lernkultur
Die folgenden ethnographischen Daten wurden im Kontext meines Praxissemesters an einer kleinen Grundschule mit 65 Schülerinnen und Schüler erhoben. Bei der Schule handelt es sich um den Teilstandort eines Schulverbundes mit insgesamt 193 Schülerinnen und Schüler. Mein Einsatzgebiet lässt sich hauptsächlich in den kleineren Teilstandort des Verbundes verorten, wobei ich auch zweimal wöchentlich für je eine Unterrichtsstunde im Fach Englisch zum Hauptstandort gependelt bin. Gleichermaßen haben zwei Lehrerinnen des Hauptstandortes zweimal in der Woche jeweils eine Unterrichtsstunde an meine Praxissemesterschule übernommen. An der Schule gibt es drei jahrgangsgemischte Klassen 1-4. Die Wochenplanarbeit gehört zum gängigen Unterrichtsprinzip der jahrgangsgemischten Klassen. Lediglich in den Fächern Sachunterricht, Musik und Religion werden die Jahrgänge 1 und 2 sowie die Jahrgänge 3 und 4 der drei Klassen getrennt voneinander unterrichtet. Der Englischunterricht für die Jahrgänge 3 und 4 findet jahrgangshomogen statt. In benannten Fächern wird nicht nach dem Prinzip der Wochenplanarbeit gearbeitet. Da es sich um eine sehr kleine Grundschule handelt und ich im Hinblick auf meine geplanten jahrgangshomogenen Unterrichtsversuche in den Fächern Mathematik und Englisch möglichst alle Kinder der Schule besser kennenlernen wollte, habe ich mit dem Kollegium vereinbart täglich in einer anderen Klasse zu hospitieren, wobei ich in der Klasse 1-4 a zweimal in der Woche zugegen war. Hier fand auch der Großteil meiner Beobachtungen statt. Gleichwohl sich der ständige Wechsel in der Anfangsphase als herausfordernd erwies, konnte ich sehr schnell eine Beziehung zu den Kindern aufbauen und empfinde dieses Vorgehen rückblickend als Bereicherung.
Die Arbeit mit dem Wochenplan verlief in allen drei Klassen fast identisch. Die Pläne wurden ausschließlich von der Lehrperson erstellt und hingen für jeden Jahrgang separat an der Fensterfront. Auf diesen Plänen konnten die Kinder ihren Namen eintragen, wenn sie eine entsprechende Aufgabe erledigt hatten. Der Wochenplan beinhaltete in der Regel überwiegend Pflichtaufgaben und pro Unterrichtsfach zwei bis drei Zusatzaufgaben auf freiwilliger Basis. Der Wochenplan wurde morgens im Sitzkreis mit allen Lernenden besprochen. Die Aufgaben wurden erklärt und ggf. Arbeitsmaterialien vorgestellt. Dabei fiel mir auf, dass besonders in der Klasse 1-4 a sehr viele Hinweise zur Reihenfolge der Bearbeitung gegeben wurden. Den ErstklässlerInnen wurde häufig sogar explizit eine Aufgabe zugewiesen. Ebendiese wurden auch vermehrt aus den Arbeitsphasen herausgezogen, um im Sitzkreis in ein neues Thema einzuführen. In gleicher Weise wurde zeitweise mit den anderen Jahrgängen verfahren. Es gab nur wenig Phasen, in denen sich die gesamte Klasse einheitlich mit dem gleichen Thema befasst hat. Die Lernumgebung war sehr übersichtlich und für alle Lernenden leicht zugänglich strukturiert, sodass auch die Jüngsten der Klassengemeinschaft sofort wussten, wo sie welche Materialien finden. Das Lehrerkollegium informierte mich, dass die Inhalte der Wochenpläne bereits zu Beginn eines Schuljahres untereinander abgestimmt werden. Deswegen arbeiteten die Schülerinnen und Schüler der drei Klassen vorwiegend an analogen Themen.
Dichte Beschreibungen und deren analytische Dimensionierung
Beobachtung I – Wochenplanarbeit
Die beschriebene Situation fand am Montag im Zeitraum von ca. 8.22 bis 8.34 Uhr in der jahrgangsgemischten Klasse 1-4 a gegen Ende des morgendlichen Erzählkreises statt. Dieser gehört zu den täglichen Routinen der Klasse.
Ich sitze auf einem Stuhl, den ich zwischen zwei Bänken des Sitzkreises positioniert habe. Die SchülerInnen sitzen verteilt auf den vier Bänken des Sitzkreises, welche in einem Rechteck angeordnet sind. Die Klassenlehrerin sitzt ebenfalls auf einem Stuhl am anderen Ende der Bank. Jedes Kind hatte gerade die Gelegenheit von ihrem/seinem Wochenende zu berichten. Dabei wird eine Stabpuppe mit einem fröhlichen und einem traurigen Gesicht beginnend bei der Lehrerin reihum gereicht. Das Kind, das die Stabpuppe in ihren/seinen Händen hält, darf von ihren/seinen Erlebnissen des Wochenendes berichten. Dabei wird bei einem positiven Erlebnis das fröhliche Gesicht der Puppe in die Runde gehalten und bei einem negativen Erlebnis das traurige Gesicht. Nun ist die Stabpuppe gerade wieder bei der Lehrperson angekommen.
Die Lehrerin nimmt die Stabpuppe kommentarlos entgegen und legt sie auf ihren Schoß. Dann schaut sie in die Runde. Die meisten Kinder blicken in die Richtung der Lehrenden. Es ist sehr ruhig. Nur zwei bis drei SchülerInnen rutschen etwas unruhig auf den Bänken hin und her. Die Lehrerin räuspert sich kurz. Dann beginnt sie unmittelbar klassenweise (beginnend bei den Erstklässlern) Instruktionen für die Arbeit mit dem Wochenplan zu geben. Die Blicke der Lernenden sind immer noch auf die Lehrkraft gerichtet, wodurch der Eindruck entsteht, dass sie aufmerksam zuhören. Sie sagt in einem ruhigen, aber bestimmenden Tonfall: „Klasse 1, ihr könnt das „sch“ im Lupenheft üben. Dann könnt ihr die Umkehraufgaben üben, aber vielleicht fangt ihr erst mal mit Deutsch an.“ Sie schaut in die Richtung einiger ErstklässlerInnen, die ihr schräg gegenübersitzen. Zwei von ihnen nicken kaum wahrnehmbar. Die Lehrerin fährt fort: „Klasse 2, ihr fangt vielleicht auch mit Deutsch an.“ Dabei sieht sie aufmerksam in die Runde. „Klasse 3 und 4, ihr fangt mit Lesen an oder ihr könnt eine Karteikarte machen.“ Ihr Blick schweift durch die Runde. Sie fragt in einem ruhigen Tonfall: „Irgendwelche Fragen?“ Lars (ein Zweitklässler) meldet sich und fragt: „Frau L., sollen wir mit Deutsch anfangen?“ Die Lehrperson blickt in die Richtung des Fragenden und antwortet ruhig: „Ja., Ihr schaut auf euren Wochenplan und fangt mit den Aufgaben für Deutsch an.“ Jan (ein Drittklässler) deutet mit dem Zeigefinger auf einen Plastikständer mit Karteikarten, welcher sich auf einem Regal mit Materialien für die Klasse 3 in unmittelbarer Nähe der Lehrerin befindet. Er ruft: „Sollen wir so etwas machen?“ Die Lehrende greift in den links von ihr stehenden Ständer mit den Karteikarten und nimmt die oberste Karte heraus. Sie hebt sie hoch und zeigt sie in die Runde. Sie erwidert: „Ja, da müsst ihr ganz genau lesen.“, wobei sie die Worte „ganz genau“ stark betont. „Nicht (sie demonstriert den Schülerinnen und Schülern, wie sie es nicht machen sollen), sondern (sie liest die auf der Karte stehenden Wörter sehr deutlich vor)“. Die Lehrperson schaut erneut in die Runde. Die meisten Kinder erwidern ihren Blick. Sie fragt mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren Seufzer: „So, wissen jetzt alle, was sie zu tun haben?“ Ein Großteil der SchülerInnen antwortet im Chor: „Jaaaa.“ Sofort springen die Kinder auf und gehen an ihre Regale, Ranzen oder Tische. Dadurch entstehen ein gewisses Durcheinander und eine Unruhe. Es wird viel durcheinander gesprochen. Die Lautstärke wird deutlich erhöht
Analytische Dimensionierung I:
Nachdem das morgendliche Ritual des Erzählkreises beendet ist, nimmt die Klassenlehrerin die Stabpuppe entgegen. Alles läuft sehr ruhig und routiniert ab, da die Schülerinnen und Schüler an den Ablauf gewöhnt sind. Trotz der ruhigen Atmosphäre und den Blicken der Lernenden, die auf die Lehrende gerichtet sind, räuspert sich diese, als müsse sie erneut Aufmerksamkeit herstellen. (Z.14) Dann beginnt sie unverzüglich klassenweise Instruktionen zur nun anstehenden Arbeit mit dem Wochenplan zu geben. Dabei fällt auf, dass die Lehrerin eine sehr zentrale Rolle einnimmt, wie man sie aus dem klassischen „Frontalunterricht“ kennt. Den SchülerInnen kommt in dieser Phase lediglich die Rolle der RezipientInnen zu, gleichwohl diese Einstiegsphase in der Klasse offiziell als „Besprechung des Wochenplans“ deklariert wird. Außerdem ist ersichtlich, dass den Lernenden nur sehr wenige Entscheidungsfreiheiten in Bezug auf ihre Arbeitsorganisation gelassen wird. Während den Dritt- und ViertklässlerInnen zumindest eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich der Aufgaben zugestanden wird (Z.22-23), wird den Erst- und ZweitklässlerInnen diese Möglichkeit scheinbar nur suggeriert. Ein Indiz ist das in Zeile 19 und Zeile 21 verwendete Wort „vielleicht“. Dieses impliziert zwar die Option auf eine andere Reihenfolge der Bearbeitung, jedoch relativiert Lars Nachfrage „Frau L., sollen wir mit Deutsch anfangen?“ (Z.25) diese Option. Das Modalverb „sollen“ verdeutlicht, dass die Aussage der Klassenlehrerin nicht als ein Vorschlag, sondern als eine Aufforderung verstanden wird. Zudem lässt die Antwort der Lehrkraft (Z.26-27) wenig Zweifel offen, dass es sich nicht um einen Vorschlag, sondern um einen klaren Arbeitsauftrag handelt. Daher könnte das kaum wahrnehmbare Nicken der ErstklässlerInnen in Zeile 20-21 auch mehr einen resignierenden als einen zustimmenden Charakter haben.
Der bereits in der Einleitung zitierte Autor Vaupel bezeichnet Wochenpläne als ein „Instrument des Offenen Unterrichts“. Jedoch scheinen die in dieser dichten Beschreibung dargestellten Handlungspraktiken im Widerspruch zum Grundgedanken offenen Unterrichts zu stehen. Wallrabenstein beschreibt offenen Unterricht als „[…] Sammelbegriff für unterschiedliche Reformansätze in vielfältigen Formen inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Öffnung mit dem Ziel eines veränderten Umgangs mit dem Kind auf der Grundlage eines veränderten Lernbegriffs.“ (Wallrabenstein, 1991, S.54) Offener Unterricht strebt demnach eine inhaltliche, methodische und organisatorische Öffnung des Unterrichts an. Das bedeutet für die Lernenden ein gewisses Maß an Partizipation und Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess, indem sie entscheiden mit welcher methodischen Zugangsweise und in welcher Sozialform sie sich mit welchem Thema auseinandersetzen. Den Aspekt der Partizipation betonen auch die Autoren Bohl und Kucharz: „Als gemeinsames Merkmal zahlreicher Definitionen [offenen Unterrichts] kann der Grad der Selbst- und Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern angesehen werden.“ (Bohl & Kucharz, 2010, S.18) Doch das Merkmal der Partizipation wird in der beschriebenen Situation seitens der Lehrperson nicht realisiert.
Beobachtung II – Wochenplanarbeit
Die beschriebene Szene fand am selben Tag in der jahrgangsgemischten Klasse 1-4 a in der Zeit von ca. 8.52 bis 9.03 Uhr statt. Ich habe mich zentral auf einem Stuhl links von der Tafel in der Nähe des Lehrerinnenpults platziert. Während der Mitschriften liegt mein Collegeblock auf meinen Knien.
Die SchülerInnen sitzen zumeist an ihren Tischen und arbeiten an ihren Wochenplänen. Die Blicke sind überwiegend auf die vor ihnen liegenden Hefte, Arbeitsblätter und Bücher gerichtet. Die Kinder lesen oder schreiben. Die Lautstärke ist eher ruhig. Nur ab und zu unterhalten sich zwei Sitznachbarn oder ein Kind steht auf, um auf die Wochenpläne zu schauen, die mit Tesafilm an den Fensterscheiben befestigt sind. Zwei Viertklässler gehen an ein Regal, um sich mit Materialien zu versorgen. Nachdem sie sich die entsprechenden Karteikarten genommen haben, bleiben sie noch vor dem Regal stehen und unterhalten sich. Sie gestikulieren leicht mit ihren Händen und lachen leise dabei.
Max (ein Erstklässler), dessen Tischgruppe am nächsten zu mir liegt, steht auf und bewegt sich mit seinem Lupenheft auf die Klassenlehrerin zu, die irgendwelche Materialien in einem Regal, in der Nähe der Fensterfront, zu sortieren scheint. Max streckt der Lehrerin das Lupenheft entgegen und fragt: „Sollen wir alle zwei Seiten machen? Dann bin ich schon fertig.“ Die Lehrerin nimmt das Heft entgegen ohne es zu öffnen. Sie guckt Max fragend an und sagt in einem mahnenden Tonfall: „Hast du genau geschaut? Schau dir die Aufgaben nochmal an und das Datum nicht vergessen.“ Sie reicht dem Erstklässler das Heft wieder und wendet sich wieder ihren Sortierarbeiten zu. Max nimmt das Heft wortlos entgegen. Er ignoriert die Aufforderung der Lehrperson und bewegt sich auf ein Ablagefach aus Kunststoff zu, welches sich in unmittelbarer Nähe des Lehrerinnenpults befindet. Dieses dient zur Ablage der bearbeiteten Aufgaben, die die Lehrerin dann später kontrolliert. Max legt sein Lupenheft in das Ablagefach.
Nachdem Max sein Heft abgelegt hat, bleibt er kurz stehen. Er guckt etwas angestrengt, als scheine er zu überlegen. Dann schlendert er zurück an seine Tischgruppe und stellt sich zunächst rechts von einem anderen Erstklässler an den Tisch. Dieser ist gerade mit Schreiben beschäftigt. Max fragt ihn, wie weit er sei. Dieser antwortet etwas Unverständliches. Max sagt stolz: „Ich bin schon fertig.“ Anschließend stellt er sich zu seinen anderen Tischnachbarn und sieht diesen beim Arbeiten zu. Nach ca. drei Minuten geht er an das Regal mit Materialien für die Erstklässler und nimmt sich einen „Logico“-Rahmen mit einer dazugehörigen Karte. Er geht langsam zurück an seinen Tisch, setzt sich auf seinen Platz und beginnt mit dem „Logico“-Material zu arbeiten. Doch bereits nach weniger als einer Minute steht er erneut auf und legt die Materialien zurück an den dafür vorgesehenen Platz. Er schaut sich die anderen Materialien an und greift dann zögernd zu einem Material, um es einen kurzen Moment später wieder zurückzulegen. Das Ganze wiederholt sich drei- bis viermal. Max hält kurz inne, als scheine er erneut zu überlegen. Schließlich greift er sich sein „Lies mal“-Heft aus einem Ständer und schlendert zurück an seinen Tisch. Als er seinen Platz erreicht, spricht ihn die Lehrerin an. Diese hat einem anderen Kind an der Tischgruppe Hilfestellung gegeben. Sie blickt auf das „Lies mal“-Heft in Max Händen und sagt in einem ruhigen, aber strengen Tonfall: „Max, hast du dir schon dein Mathebuch geholt? Jetzt darfst du dir das Mathebuch holen und erst mal Mathe machen.“ Max schielt auf das Heft in seinen Händen. Dieses Mal befolgt er die Anweisung der Lehrkraft und legt das Heft wortlos zurück an seinen Platz. Daraufhin bewegt er sich etwas schneller auf ein Regal mit Stehordnern zu, welches sich links neben der Eingangstür befindet. Er greift zielstrebig nach seinem Mathebuch und kehrt einen kurzen Moment später an seinen Sitzplatz zurück.
Analytische Dimensionierung III:
Nachdem den Schülerinnen und Schüler die Aufgaben bzw. Unterrichtsfächer für die Arbeit mit dem Wochenplan zugewiesen wurden, sind sie an ihre Sitzplätze zurückgekehrt und arbeiten in sehr ruhiger Atmosphäre. Jedes Kind weiß anscheinend genau, was es zu tun hat. Bei den vereinzelten Gesprächen unter Sitznachbarn lässt sich nicht ausmachen, ob es sich um Unterrichtsinhalte oder peerkulturelle Themen handelt. Die Lehrerin nutzt die Gelegenheit, um sich kurz zurückzuziehen und einige Materialien zu sortieren. Als Max an die Lehrperson herantritt, um sie zu informieren, dass er mit den Aufgaben im Lupenheft schon fertig sei, reagiert diese scheinbar mit einer gewissen Skepsis. Sie schaut sich die Aufgaben des Erstklässlers nicht an und erwidert in einem mahnenden Tonfall „Hast du genau geschaut?“ (Z.14-15) Dann fordert sie den Jungen auf sich die Aufgaben nochmal anzusehen. Es scheint so, als habe die Lehrende Zweifel, dass Max die Aufgaben in der Kürze der Zeit zu ihrer Zufriedenheit erledigt hat. Ob diese Zweifel Erfahrungswerten (evtl. mit dem Arbeitsverhalten des Erstklässlers) oder einer sozialen Bezugsnorm geschuldet sind, bleibt unklar. Max widersetzt sich allerdings den Anweisungen der Klassenlehrerin. Er sieht anscheinend keine Notwendigkeit sich die Aufgaben noch einmal anzusehen und ggf. zu überarbeiten. Dies könnte für ein Vertrauen des Jungen in seine Fähigkeiten oder für eine mangelnde Motivation sprechen.
Daraufhin wirkt der Schüler etwas planlos. Er schlendert zunächst zurück an seinen Gruppentisch, um einen anderen Erstklässler anzusprechen. Diesem berichtet er stolz, dass er schon fertig sei. (Z.25) Mit dieser Aussage sucht er vermutlich nach sozialer Anerkennung. Anerkennung für sein zügiges Arbeitstempo und seine (vermeintliche) Leistung. Danach scheint der Erstklässler erneut orientierungslos. Er beobachtet seine MitschülerInnen beim Arbeiten, ehe er beschließt sich auch eine Aufgabe zu suchen. Er bezieht weder den Wochenplan in seine Arbeitsplanung ein noch berücksichtigt er die im Sitzkreis erfolgten Instruktionen der Lehrkraft. Dabei lässt sich nicht ausmachen, ob Max den Wochenplan und die Anweisungen der Lehrerin bewusst ignoriert oder ob er mit der Selbstständigkeit, die mit dieser Form offenen Unterrichts einhergeht, überfordert ist. Max sucht das Regal mit den Materialien für die erste Klasse auf und entscheidet sich spontan für das „Logico“-Material (vermutlich, weil die ErstklässlerInnen im Umgang damit sehr vertraut sind). Doch innerhalb kürzester Zeit legt er das Material (wahrscheinlich unvollendet) zurück. Diese Folgerung ist naheliegend, weil es in der Klasse üblich ist, dass die Lernenden den bearbeiteten Rahmen der Lehrkraft zeigen, welche die Ergebnisse dann kontrolliert (obwohl das Material den SchülerInnen die Möglichkeit zur Selbstkontrolle bietet). Der Grund für das zügige Zurücklegen wird nicht ersichtlich. Als der Schüler erneut an das Regal geht, greift er nach mehreren Materialien, um sie kurz darauf zurückzulegen. Vielleicht ist er mit den Materialien noch nicht ausreichend vertraut oder die Vielzahl an Materialien überfordert ihn. Dennoch lässt sein zögerliches Verhalten in dieser Situation auf eine gewisse Unsicherheit schließen. Schließlich entdeckt er das „Lies mal“-Heft, das ihm bekannt ist. Allerdings ergreift erneut die Lehrperson die „Planungshoheit“, indem sie dem Erstklässler sagt, was er als Nächstes tun soll. Das zielstrebige Handeln des Jungen nach dieser Instruktion könnte ein Indiz sein, dass sich eine in diesem Moment führende Lehrperson als hilfreich für ihn erweist.
Die Szene lässt Zweifel aufkommen, ob bereits alle Kinder die erforderlichen Kompetenzen für eine erfolgreiche Teilhabe am geöffneten Unterricht mitbringen. Die offenen Unterrichtsformen verlangen den SchülerInnen Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Disziplin, Organisationsvermögen und Selbstmotivation ab. Diese Eigenschaften sind Voraussetzung für einen schülerzentrierten Unterricht, welcher auf das selbstgesteuerte Lernen der SchülerInnen abzielt. Doch gerade SchulanfängerInnen könnten mit den an sie gestellten Erwartungen überfordert sein. Das Gleiche gilt für Lernende mit sozial-emotionalen Förderbedarf, die vermehrt auf die Hilfe einer führenden Lehrperson angewiesen sind. Ebenso spielt der sozioökonomische Status und die kulturelle Herkunft der Kinder eine nicht von der Hand zu weisende Rolle, wenn es um die erforderlichen Kompetenzen für eine erfolgreiche Teilhabe am individualisierten Unterricht geht. Auf die Problematik des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und die für den individualisierten Unterricht nötigen Metakompetenzen verweisen auch Breidenstein und Rademacher: „Eine erste skeptische Perspektive ergibt sich aus der Frage nach den sozialen Differenzen, die der individualisierte Unterricht (re-)produziert. Insofern dieses Unterrichtsformat Meta-Kompetenzen wie Konzentrationsfähigkeit, Selbstdisziplin und generell Selbstmanagement-Fähigkeiten belohne, privilegiere er nicht nur Mädchen, sondern auch bestimmte soziale Milieus.“ (Breidenstein & Rademacher, 2017, S.8)
Beobachtung III – Wochenplanarbeit
Die nachfolgende Szene ereignete sich am Mittwoch in der Zeit von ca. 9.18 bis 9.32 Uhr in der jahrgangsgemischten Klasse 1-4 c. Ich sitze zentral auf einem Stuhl links von der Tafel unweit des Lehrerpults. Die Schülerinnen und Schüler hatten zuvor alle gemeinsam im Sitzkreis eine Einführung in eine neue Thematik (Geometrie). Dazu haben sie zusammen verschiedene Körper betrachtet und versucht diese zu benennen. Darüber hinaus haben sie überprüft, wie viele Ecken, Kanten und Flächen die jeweiligen Körper haben. Nun sind sie an ihre Sitzplätze zurückgekehrt und sollen dem Wochenplan entsprechend unterschiedliche Aufgaben zu dem Thema bearbeiten.
Es gibt einige SchülerInnen, die ihren Hilfebedarf durch Melden signalisieren. Der Klassenlehrer eilt zwischen den Lernenden, welche seine Hilfestellung benötigen, hin und her. Gerade beugt er sich von hinten über eine Zweitklässlerin (diese sitzt an einer Tischgruppe links von mir, im vorderen Bereich der Klasse) und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf ihr Arbeitsblatt. Gleichzeitig scheint er ihr etwas zu erklären. Die Arbeitsatmosphäre scheint etwas unruhiger als gewohnt, da sich immer wieder neue Kinder melden. Einige versuchen auf sich aufmerksam zu machen, indem sie ihre Arme besonders weit nach vorne in Richtung der Lehrperson strecken und jedes Mal, wenn der Lehrer aufschaut, leicht stöhnende Geräusche machen. Viele der Hilfesuchenden blicken auch immer wieder mit einem fast schon bittenden Blick in meine Richtung.
In der gegebenen Situation sticht der Erstklässler Fabian heraus. Er sitzt an der gleichen Tischgruppe wie die zuvor erwähnte Zweitklässlerin. Er streckt seinen rechten Arm, den er mit seinem linken Arm abstützt, immer weiter nach vorne, sodass er weit über seinem Tisch hängt. Sein Blick wirkt fast verzweifelt. Dabei macht er stöhnende Geräusche und berührt mit seinem rechten Zeigefinger schon fast die Lehrkraft. Diese wirft einen ernsten Blick in Fabians Richtung. Dann schiebt er den Arm des Erstklässlers leicht zur Seite und sagt in einem ruhigen, aber strengen Tonfall an den Jungen gewandt: „Wer sich ordentlich melden kann, der kommt auch dran.“ Dann wendet sich der Lehrer wieder der Zweitklässlerin zu. Daraufhin zieht Fabian seinen Oberkörper zurück und beugt sich nur noch leicht über den Tisch. Schließlich gebe ich meinen Beobachtungsposten auf und eile den Lernenden zur Hilfe.
Analytische Dimensionierung III:
Die SchülerInnen sind gerade mit Aufgaben zu einem neuen Thema in die Wochenplanarbeit entlassen worden. Es zeichnet sich ab, dass viele der Lernenden noch Hilfestellung bzgl. der neuen Thematik benötigen. Deshalb eilt der Klassenlehrer zwischen den Schülerinnen und Schülern hin und her, um sie kurzfristig zu unterstützen. Obwohl sich immer wieder neue SchülerInnen melden, wirkt der Lehrer sehr ruhig. Er bemüht sich die Anliegen der Kinder nacheinander „abzuarbeiten“. Die Lernenden erscheinen in dieser Situation jedoch weniger geduldig. Sie versuchen durch Gesten und Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Gleichermaßen blicken sie immer wieder hilfesuchend in meine Richtung, wodurch ein Eindruck der Dringlichkeit entsteht.
Für den Erstklässler Fabian sind die Aufgaben anscheinend besonders herausfordernd, da sein Blick schon fast verzweifelt wirkt. (Z.14) Deshalb hat er seine eigene Strategie, um seinen Hilfebedarf Nachdruck zu verleihen. Doch die Lehrperson verweist ihn mit dem Ausspruch „Wer sich ordentlich melden kann, der kommt auch dran.“ (Z. 17-18) an die (institutionell) vereinbarten Regeln und Verhaltensweisen. Somit macht der Lehrer das Einhalten der Verhaltensregeln zur Bedingung für seine Unterstützung. Ich selbst hinterfrage in diesem Moment die Angemessenheit meiner Beobachterrolle, da ich den vermehrten Hilfebedarf der Lernenden wahrnehme. Daher beschließe ich meiner Rolle als Praktikantin nachzukommen, weil die Notwendigkeit einer zusätzlichen Lernbegleitung überwiegt.
Die Autoren Breidenstein und Rademacher beschreiben im Rahmen ihres ethnographischen Forschungsprojekts zum individualisierten Unterricht an Grundschulen, welches unter dem Titel „Individualisierung und Kontrolle-Empirische Studien zum geöffneten Unterricht in der Grundschule“ veröffentlicht wurde, in gleicher Weise die Problematik der Verteilung der „Ressource Lehrkraft“. Obwohl die Schülerinnen und Schüler im offenen Unterricht überwiegend selbstständig mit ihren Aufgaben und Materialien beschäftigt waren, wurde die Lehrperson immer wieder als Anlaufstelle für die individuellen Anliegen der Kinder aufgesucht. Daraus ergaben sich unterschiedliche Beobachtungen hinsichtlich der Strategien zur Bewältigung des Problems „Knappheit der Ressource Lehrkraft“. (vgl. Breidenstein & Rademacher, 2017, S.66) Die Strategie, die in meiner dichten Beschreibung erkennbar wird, bezeichnen die Autoren als „Die Lehrperson als mobiles Einsatzkommando“ (ebd., S.68) Das Prinzip der Verteilung der Ressource Lehrkraft besteht darin, dass die Lehrperson zwischen den SchülerInnen hin und her eilt, um möglichst kurzfristig und effektiv Probleme zu lösen. Dabei grenzt die Konstellation der Körper (die Lehrkraft beugt sich über die/den Lernende/n und stützt sich auf dem Tisch ab) einen Raum der Zweier-Interaktion vom restlichen Geschehen ab. Diese Art der Körperhaltung ist nicht auf eine längerfristige stabile Interaktion angelegt. (vgl. ebd., S.68) Diese Variante der Lehrer-Schüler-Interaktion ist durch eine Routinisierung und Standardisierung der inhaltlichen Hilfestellung gekennzeichnet, welche laut der Autoren nur durch das Arbeiten an den gleichen Materialien oder in den gleichen Arbeitsheften gewährleistet werden kann. (vgl. ebd., S.69, 72) Doch steht meines Erachtens diese Standardisierung im Widerspruch zum Grundgedanken des offenen Unterrichts. Dieser sollte es den Lernenden ermöglichen sich (selbst gewählte) Inhalte durch eigene Problemlösestrategien zu erschließen. Jedoch macht es die stark eingeschränkte Zeitspanne, die sich eine Lehrperson einem einzelnen Kind widmen kann, fast unmöglich sich intensiver mit der individuellen Herangehensweise der/des Einzelnen auseinanderzusetzen.
Fazit und Ausblick
Ziel der vorliegenden ethnographischen Mikrostudie war die Erforschung schulischer Mikroprozesse zu Praktiken des Lehrens und Lernens mit dem Fokus auf die Handlungspraktiken schulischer AkteurInnen (insbesondere der ErstklässlerInnen) im Kontext der Wochenplanarbeit. In diesem Zusammenhang konnten unterschiedliche Aspekte dieser Form des offenen Unterrichts herausgearbeitet werden. Es hat sich gezeigt, dass die in den dichten Beschreibungen dargestellten Handlungspraktiken oftmals im Widerspruch zum Grundgedanken offenen Unterrichts stehen.
Im Gegensatz zum traditionellen Unterricht verzichtet der offene Unterricht auf ein gleichschrittiges Lernen, das alle SchülerInnen zur gleichen Zeit demselben Lehrgang folgen lässt. Vielmehr ist der offene Unterricht durch ein gewisses Maß an Partizipation der Lernenden gekennzeichnet, wodurch die individuellen Lernvoraussetzungen eines jeden Kindes berücksichtigt werden. Der Wochenplan, als ein Instrument offenen Unterrichts, kann in dieser Hinsicht Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Arbeitsorganisation und Sozialform bis hin zu methodischen Zugängen und Inhalten verwirklichen, sodass diese mit den kognitiven Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler übereinstimmen. Durch diese Form der Mitbestimmung soll ein individuell passendes Lernangebot für jede/n Einzelne/n geschaffen werden, um die Lernenden auf dem Weg zu einem autonomen und selbstgesteuerten Lernen zu begleiten. Doch haben sich durch die Teilnehmende Beobachtung Diskrepanzen hinsichtlich der didaktischen Grundprinzipien offenen Unterrichts und der Umsetzung in der Unterrichtspraxis gezeigt. So war die Arbeit mit dem Wochenplan bzgl. der Arbeitsorganisation (sowie der Methoden und Inhalte) durch die Lehrkraft fremdbestimmt. Derartiges Vorgehen bemängelt der Reformpädagoge Falko Peschel: „Entsprechend können auch die Freie Arbeit und der Wochenplan keine autoritäre Vorgabe des Lehrers sein, sondern allenfalls eine gemeinsame Vereinbarung über gemeinsame Ziele als Hilfe zur Selbstorganisation und zur Legitimation nach außen.“ (Peschel, 2009, S.20) Eine Partizipation der Lernenden war nicht ersichtlich. Demnach sollte sich jede (angehende) Lehrperson mit den Grundprinzipien offenen Unterrichts auseinanderzusetzen, bevor sie diese Methode zur Öffnung des Unterrichts in den Stundenplan integriert.
Ein weiterer Aspekt ist, dass Wochenplanunterricht, der auf den ersten Blick für jede/n Lernende/n leicht zugänglich zu sein scheint, da er an die individuellen Lernvoraussetzungen und Bedürfnisse von Kindern anknüpft, hohe Anforderungen an die Kompetenzen der Lernenden stellt. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass (noch) nicht alle SchülerInnen diesen Anforderungen gewachsen sein könnten. Für bestimmte Schüler (-gruppen), wie z.B. Kinder aus bildungsfernen Familien, Kinder mit diagnostizierten Förderbedarf im sozial-emotionalen Bereich oder auch SchulanfängerInnen könnte sich diese Art des selbstorganisierten Lernens als eine Überforderung erweisen. Daher sollte es Aufgabe aller Schulen sein die für das selbstgesteuerte Lernen nötigen Kompetenzen zu vermitteln und zu stärken. Diese dürfen keinesfalls als gegeben vorausgesetzt werden.
Ein weiteres Problem, welches mithilfe dieser ethnographischen Mikrostudie aufgezeigt werden konnte, betrifft die Knappheit der „Ressource Lehrkraft“. Auch Breidenstein und Rademacher verweisen, begründet durch ihre umfangreiche Feldforschung zum geöffneten Unterricht in der Grundschule, auf diese Problematik. Eine Strategie zur Bewältigung des Problems, welches im Praxissemester beobachtet werden konnte, beschreiben die Autoren als „Die Lehrperson als mobiles Einsatzkommando“. Sie geben zu bedenken, dass das didaktische Handeln dieser Lehrer-Schüler-Interaktion stets improvisiert ist. (vgl. Breidenstein & Rademacher, 2017, S.72) Zudem machen die begrenzten Möglichkeiten der Lehrenden im Schulalltag aufgrund mangelnder Kapazitäten eine Standardisierung der Unterrichtsinhalte und eine Routinisierung der Hilfestellung erforderlich. Doch gerade der offene Unterricht sollte nicht auf Standardisierungen angewiesen sein, sondern durch Freiheiten in Bezug auf methodische Zugänge und persönliche Präferenzen gekennzeichnet sein.
Die Wochenplanarbeit weist sehr vielseitige Facetten wie Unterrichtsorganisation, Lernmaterialien oder auch das Arbeiten in verschiedenen Sozialformen auf. In dieser Mikrostudie konnten nur einzelne Aspekte dieser sehr breit gefächerten Unterrichtsmethode dargestellt werden. Aufgrund der sehr kleinen Stichprobe erhebt die Studie keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Dennoch weisen einzelne Erkenntnisse Berührungspunkte mit den Erhebungen umfangreicher empirischer Studien auf. Zukünftig wäre es interessant zu erforschen, wie sich die Arbeit mit dem Wochenplan an Schulen mit einem reformpädagogischen Ansatz gestaltet.
Literaturverzeichnis
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