Das vorliegende Studienprojekt im Rahmen meines Praxissemesters ist als ethnografische Studie im Feld der Grundschule angelegt und widmet sich dem Thema „Akteure des Morgenrituals“. Ziel dieses Studienprojektes ist es, die Forschungsfrage „Wie wird das Morgenritual in der Klasse 2a von den beteiligten Akteuren hervorgebracht?“ zu beantworten. Um ein vertieftes Verständnis für das Thema zu entwickeln, ist es zunächst notwendig, die Begriffe Akteurund Ritual näher zu definieren.
Als Akteure werden im Kontext dieser Arbeit die Lehrkraft und die Schülerinnen und Schüler verstanden. Der Begriff Akteur bezeichnet laut Duden (vgl. Duden o.J. a) eine handelnde oder an einem bestimmten Geschehen beteiligte Person. In der Untersuchung spielen die Akteure eine entscheidende Rolle, da sie durch ihre Handlungen und Interaktionen das Morgenritual aktiv gestalten und prägen.
Der Begriff Ritual hat laut dem Duden (vgl. Duden o.J. b) zwei unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits bezeichnet er die Gesamtheit der in einem religiösen Kult festgelegten Bräuche, anderseits beschreibt er ein „wiederholtes, immer gleichbleibendes, regelmäßiges Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung“ (ebd.). Insbesondere die zweite Definition lässt sich auf die Grundschule beziehen, da Rituale im Kontext von Erziehung, Bildung und Sozialisation von Grundschulschülerinnen und -schülern eine zentrale Rolle spielen (vgl. Wulf 2008a, S. 69). Rituale bieten Orientierung, unterstützen Kinder dabei, gesellschaftliche Strukturen zu verstehen, und fördern einen konstruktiven Umgang mit ihnen (vgl. ebd.). Darüber hinaus erleichtern sie den Übergang zwischen verschiedenen sozialen und institutionellen Bereichen und tragen maßgeblich zum sozialen Lernen bei, das eine wichtige Grundlage für Schule und Unterricht darstellt (vgl. ebd.). Schulen sind somit „in hohem Maße rituell organisierte Institutionen“ (ebd.; S. 71), in denen Rituale sowohl im Rahmen von Schulfesten als auch in Form von Unterrichtsritualen vielfach genutzt werden (vgl. ebd.). Letztere dienen insbesondere dazu, „Übergänge zwischen Pausen und Unterricht und die Struktur der Sequenz der verschiedenen unterrichtlichen Lernkulturen“ (ebd.) zu gestalten.
Wulf (vgl. Wulf 2008a, S. 72.) beschreibt grundlegende Merkmale von Ritualen, die nicht nur für die Grundschule, sondern auch für die Sozialisation von Schülerinnen und Schülern von Bedeutung sind. So fördern Rituale aufgrund der Inszenierung des menschlichen Körpers als „wirksamste Form menschlicher Kommunikation“ (Wulf 2008b, S. 331) die soziale Gemeinschaft und bieten Kindern Orientierung (vgl. Wulf 2008a, S. 72; vgl. Wulf 2008b, S. 331). Sie zeichnen sich durch ihren performativen Charakter aus, indem sie Gemeinschaft herstellen und gleichzeitig eine soziale Ordnung schaffen, die durch Machtverhältnisse geprägt ist (vgl. ebd.). Durch Regelmäßigkeit und Wiederholung festigen oder verändern Rituale Beziehungen – sowohl zwischen Schülerinnen und Schülern als auch im Verhältnis zu Erwachsenen (vgl. ebd.). Zudem haben Rituale immer einen definierten Anfang und ein Ende und wirken dynamisch, indem sie das Verhalten der Kinder prägen (vgl. ebd.). Durch körperliche Praktiken entstehen Handlungsformen und Schemata, mit denen sich Kinder identifizieren können und die Raum für neue Verhaltensweisen eröffnen (vgl. ebd.). Des Weiteren vermitteln Rituale den Schülerinnen und Schülern der Grundschule wesentliche Faktoren für die Entwicklung, wie z.B. Kontinuität, Sicherheit und Verlässlichkeit (vgl. Wulf 2008a, S. 72.).
Abschließend hebt Wulf (vgl. Wulf 2008b, S. 332) hervor, dass Rituale auch die Unterrichtsgestaltung erheblich beeinflussen, indem sie die Voraussetzungen für effektive Lernprozesse im Unterricht schaffen.
Viele dieser Funktionen von Ritualen lassen sich auch auf das Morgenritual der Klasse 2a übertragen. Mit Hilfe der Forschungsfrage „Wie wird das Morgenritual in der Klasse 2a von den beteiligten Akteuren hervorgebracht?“ möchte ich untersuchen, wie das Morgenritual von den beteiligten Akteuren gestaltet wird und was wie zum Thema gemacht wird. Dabei sollen die rollenspezifischen Praktiken der Lehrkraft sowie der Schülerinnen und Schüler herausgearbeitet werden. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen mir als zukünftigem Grundschullehrer helfen, den Unterrichtsbeginn gezielt zu gestalten und Methoden zu entwickeln, die den Schultag sinnvoll strukturieren.
Dazu wird zunächst das methodische Vorgehen des Studienprojekts vorgestellt. Es folgt eine Reflexion der eigenen Rolle sowie eine Beschreibung der Lernkultur der Klasse 2a. Anschließend folgen zwei dichte Beschreibungen und deren analytische Ansätze. Die Arbeit schließt mit einem Fazit, das eine Zusammenfassung und einen Ausblick enthält.
Um das Studienprojekt im Rahmen meines Praxissemesters an der mir zugeteilten Schule durchführen zu können, habe ich mich vor dem Hintergrund meiner Fragestellung auf die ethnografische Feldforschung konzentriert. Der Fokus lag dabei auf dem „schulischen Unterricht als ein spezifisches Feld ethnografischer Forschung“ (Breidenstein 2012, S. 28).
‚Ethnografie‘ stellt eine sozialwissenschaftliche Forschungsstrategie dar, die sich auf die teilnehmende Beobachtung konzentriert (vgl. Breidenstein 2012, S. 27). Im ursprünglichen Sinne bedeutet der Begriff „die Beschreibung eines ‚Volkes‘“ (ebd.; S. 29). Nach der heutigen Bedeutung liegt der Fokus der Ethnografie aber darauf, Vertrautes so zu betrachten, als wäre es unbekannt, um dadurch neue Einsichten und Erkenntnisse zu gewinnen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 12; vgl. Breidenstein 2012, S. 30).
Ziel es ist es daher, „einen neuen und fremden Blick auf die Selbstverständlichkeit und Gewohnheit der eigenen Umgebung und des eigenen Alltags [– hier im Kontext Schule bzw. schulischer Unterricht –] zu gewinnen (vgl. Breidenstein 2012, S.30). Breidenstein (ebd.) bezeichnet dies auch als Betrachten einer „fremden Kultur“.
Insgesamt legt die ethnografische Schul- und Unterrichtsforschung besonderen Wert darauf, das Schulgeschehen in seinem natürlichen Kontext zu beobachten und zu verstehen. Dabei stehen im Rahmen meines Studienprojektes insbesondere die Perspektiven und Interaktionen der Akteure, also die der Lehrkraft und der Schülerinnen und Schüler, im Mittelpunkt.
Die durchgeführten Beobachtungen fanden jeden Morgen zur gleichen Zeit in der ersten Stunde statt. Während der Beobachtungszeit habe ich stichpunktartig Notizen gemacht und diese manchmal in einer kurzen Pause durch eine Sprachmemo ergänzt. Die Beobachtungsnotizen sind somit während, zwischen und nach meiner Beobachtung entstanden (vgl. Breidenstein et al. 2020, S. 110f.). Am Ende des Schultages habe ich meine Notizen geordnet und zu einem Beobachtungsprotokoll verschriftlicht (vgl. Breidenstein 2012, S. 32). Um eine möglichst genaue und verständliche dichte Beschreibung zu erhalten, überarbeitete ich das Beobachtungsprotokoll mit einem zeitlichen Abstand von ca. einem Tag (vgl. ebd.; S. 32f.).
Die Analyse meiner Beobachtungen erfolgte mit einem gewissen zeitlichen Abstand, um eine distanzierte Betrachtung zu ermöglichen. Fokus dieser Analyse war ausschließlich die Frage nach dem ‚Wie?‘ – Wie wird das Morgenritual in der Klasse 2a von den beteiligten Akteuren hervorgebracht? Dazu ging ich „Schritt für Schritt vor und folg[t]e damit der sich im Vollzug entfaltenden Logik der Praxis“ (Breidenstein 2012, S. 36). Um eine möglichst objektive Auswertung zu gewährleisten, habe ich auch Rückmeldungen von Seminar-Kommilitoninnen und -Kommilitonen eingeholt, die mir ihre Gedanken zu meinen Beobachtungsprotokollen mit Blick auf die Forschungsfrage mitteilten.
Während meines Praxissemesters bewegte ich mich in der Doppelrolle als Forscher und Praktikant bzw. Lehrkraft. Im Verlaufe meines Praxissemesters wechselte ich immer wieder zwischen den beiden Rollen. Zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen war ich bereits ein fester, integrierter Bestandteil der Klasse 2a. In den Phasen, in denen ich aktiv am Unterricht teilnahm – sei es als Unterstützung der Lehrkraft, der Schülerinnen und Schüler oder als eigenständig unterrichtende Person –, standen die Interaktionen mit den Schülerinnen und Schülern im Vordergrund. Hierbei spielte meine bereits vor dem Praxissemester in anderen Schulen gesammelte Unterrichtserfahrung eine zentrale Rolle. Sie erleichterte es mir, schnell Vertrauen aufzubauen und von den Schülerinnen und Schülern als fester Teil der Klasse wahrgenommen zu werden.
Meine Rolle als Beobachter erforderte hingegen eine bewusste Abgrenzung vom Unterrichtsgeschehen. Da eine vollkommene Distanz nicht möglich ist, war ich auch als Beobachter stets ein teilnehmender Akteur. Dennoch habe ich bei meinen Beobachtungen eine eher zurückhaltende Rolle eingenommen, um das Geschehen möglichst unbeeinflusst wahrnehmen zu können. Hierfür nutzte ich einen Sitzplatz seitlich im Raum, der mir eine gute Sicht auf die Schülerinnen und Schüler bot, ohne direkt im Geschehen involviert zu sein. Zudem verhielt ich mich während meiner Beobachtungen ruhig und stand für Fragen der Schülerinnen und Schüler bewusst nicht zur Verfügung. Diese Abgrenzung wurde von der Klasse akzeptiert, wodurch ich mich insgesamt während meiner ethnografischen Beobachtungen nahtlos in den Unterrichtsalltag einfügen konnte. Dazu beigetragen hat außerdem, dass Praktikantinnen und Praktikanten sowie Referendarinnen und Referendare im Unterrichtsalltag der Schülerinnen und Schüler nicht ungewöhnlich waren, sodass meine Rolle als Forscher kaum hinterfragt wurde.
Als Forscher ist es mir daher insgesamt gelungen, durch teilnehmende Beobachtung Einblicke zu gewinnen. Dazu bewegte ich mich auf der Ebene des Feldes und blieb dabei weitgehend unauffällig (vgl. Breidenstein et al. 2020, S. 85). Meine doppelte Rolle als Teilnehmer und Beobachter zeigt sich deutlich im folgenden Beispiel: Während des Morgenrituals, bei dem die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit der Lehrkraft ihren aktuellen Gefühlszustand in Bezug auf die Temperatur bestimmten, nahm ich aktiv an der Abstimmung teil und fertigte gleichzeitig Notizen an. Diese doppelte Rolle erlaubte es mir, Daten zu erheben, ohne meine Rolle als Beobachter offenkundig zu machen. Dies spiegelt auch die folgende Aussage von Breidenstein (vgl. Breidenstein et al. 2020, S. 88) wider: „Die teilnehmende Beobachtung folgt dem Geschehen, passt sich ihm an, und es ist nicht ein Geschehen, das einfach mit sich identisch wäre […]“.
Mein Praxissemester habe ich an einer katholischen Grundschule in einer ländlichen Region Westdeutschlands durchgeführt, die teilweise einzügig bzw. zweizügig geführt wird. Den Großteil meines Praxissemesters habe ich in der einzügigen zweiten Klasse verbracht, da die Klassenlehrerin gleichzeitig meine Mentorin war.
Die Klasse 2a besteht aus 28 Kindern, darunter zehn Schülerinnen und 18 Schülern. Laut meiner Mentorin stammen nahezu alle Schülerinnen und Schüler aus bildungsnahen Familien. Bei einem Schüler wurde sowohl eine sozial-emotionale Störung als auch eine Lernbehinderung diagnostiziert, weshalb er jeden Tag durch eine Integrationskraft begleitet und unterstützt wird. Zudem weisen zwei weitere Kinder eine diagnostizierte Lese-Rechtschreib-Schwäche auf. Dennoch empfand ich die Klasse 2a in der Gesamtheit als eine überwiegend leistungsstarke Klasse.
Der Klassenraum der Klasse 2a befindet sich allein im oberen, linken Stockwerk der Grundschule. Durch eine große Fensterfront wirkt der Raum hell und einladend. Neben mehreren Schränken mit Unterrichtsmaterialien gibt es am Ende des Klassenraumes Regalfächer für die Schülerinnen und Schüler sowie Regalfächer mit Spielen. Über der Tafel ist ein großer Fernseher befestigt, der mit einer Dokumentenkamera, die neben dem Pult steht, verbunden ist. Links neben der Tafel befindet sich ein kleines Regal, das einen Teil des Zubehörs für das Morgenritual enthält. Rechts von der Tafel befindet sich eine weitere kleine Tafel, an der der Unterrichtsablauf für den jeweiligen Tag hängt. Gegenüber der Fensterfront befindet sich ein weiteres Regal, das ebenfalls Elemente für das Morgenritual enthält. Die Tische der Klasse 2a verlaufen parallel zu den jeweiligen Wänden des Raumes, sodass in der Mitte ein Platz für einen Sitzkreis mit Bänken vorhanden ist. Dies ist auf den Unterricht der Klassenlehrerin zugeschnitten, da sie überwiegend frontal oder im Sitzkreis unterrichtet.
Eine detaillierte Anordnung des Klassenraums mit den beschriebenen Gegenständen ist der Skizze im Abbildungsverzeichnis zu entnehmen.
Die Lernkultur der Klasse ist geprägt von einer lebendigen und dynamischen Atmosphäre, die durch die große Anzahl von 28 Kindern entsteht. Trotz dieser Lebendigkeit bleibt die Klasse bemerkenswert freundlich und unterstützend. Die Kinder helfen sich gegenseitig mit Freude und fördern so ein positives Gemeinschaftsgefühl. Die Zusammenarbeit wird jedoch gelegentlich durch die Frustration einiger Kinder getrübt, insbesondere der Leistungsstarken, wenn sie in der begrenzten Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit oder Redezeit erhalten.
Die Klassenlehrerin pflegt ein enges und freundschaftliches Verhältnis zu fast allen Kindern, was für eine vertrauensvolle und angenehme Lernumgebung sorgt. Ihre Präsenz und Zugewandtheit fördern nicht nur den sozialen Zusammenhalt, sondern auch die individuelle Motivation der Schülerinnen und Schüler. Dies zeigt sich besonders durch ihr einteilungsbedingtes Fehlen an einem Tag der Woche, an dem eine Referendarin unterrichtet. Zwar kennt diese die Schülerinnen und Schüler auch sehr gut, dennoch ist das Fehlen der Klassenlehrerin in jeder Hinsicht spürbar.
Die Integrationskraft leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Lernkultur. Sie ist nicht nur für das von ihr betreute Kind eine wertvolle Unterstützung, sondern bietet ihre Hilfe auch anderen Kindern an. Besonders während der Arbeitsphasen ist sie eine verlässliche Stütze, da sie bei der Kontrolle und Unterstützung aller Schülerinnen und Schüler mithilft.
Es folgen nacheinander zwei ausgewählte Ausschnitte aus Beobachtungsprotokollen, die zum einen die Schülerinnen und Schüler und zum anderen die Lehrkraft im Fokus haben. Da es sich hier um Ausschnitte handelt, enthalten die Protokolle zwischendurch gekennzeichnete Leerstellen, die das Verstehen und die Bedeutung des Ablaufes aber nicht verfälschen. Nach jedem Beobachtungsprotokoll folgt eine analytische Dimensionierung, die sich auf den jeweiligen Fokus des Beobachtungsprotokolls konzentriert.
5.1 Beobachtung 1: Fokus auf die Schülerinnen und Schüler
„Sehr gut. Starten wir mit unserem Morgenritual. Kai, du warst noch nicht dran. Möchtest du heute das Morgenritual leiten?“ (Namen anonymisiert), fragt die Klassenlehrerin einen ihrer Schüler, nachdem sie auf einem Notizzettel geschaut hat, der auf ihrem Pult liegt (Auf diesem Zettel wird notiert, welche Kinder bereits das Morgenritual geleitet haben). Kai nickt entschlossen und strahlt über das ganze Gesicht. Er steht auf, läuft nach vorne zur Lehrerin und stellt sich neben sie. „Den wievielten Schultag haben wir heute?“ fragt Kai laut. Augenblicklich melden sich die meisten Kinder. Auf einer Liste hinter ihm guckt Kai nach, welche Kinder bereits dran waren und welche nicht. Anschließend nimmt er eine Mitschülerin dran. Diese steht auf und begibt sich ebenfalls nach vorne zu einem kleinen Brett, auf welchem die Schultage stehen. Dort verändert sie die Einerzahl von sechs auf sieben. „Heute ist der 217te Schultag.“, sagt sie mit leiser Stimme und sieht dabei ihre Klassenlehrerin fragend an, die mit einem freundlichen Nicken nonverbal antwortet. Danach geht die Schülerin schnell auf ihren Platz zurück. Nun begibt sich Kai ohne Aufforderung auf die andere Seite des Klassenraumes zu einem Schränkchen. Auf diesem steht eine kleine Tafel, welche den Tag, das Datum, die Jahreszeit, die gefühlte Temperatur und das Wetter anzeigt.
Mit verschränkten Armen stellt sich Kai vor das Schränkchen und fragt seine Klassenkameraden, welchen Wochentag wir heute haben. Erneut schnellen die Finger der nahezu gesamten Klasse energisch nach oben. Kai zögert und blickt durch die Klasse. Nach einigen vergangenen Sekunden nimmt Kai einen Schüler dran, der direkt vor ihm sitzt. „Dienstag“, sagt dieser nuschelnd und mit leiser Stimme. „Man versteht hier vorne gar nichts. Du musst deutlicher und lauter reden“, greift die Lehrerin ein und zwinkert dem Schüler zu. „Dienstag“, sagt dieser nun lauter und klarer. Kai fährt fort und hängt die Karte ‚Dienstag‘ an die kleine Tafel. „Wenn sich der Wochentag verändert, verändert sich auch die Zahl.“, sagt Kai währenddessen und dreht sich anschließend zurück zur Klasse um. Erneut melden sich hektisch viele Kinder. „Schneller“, bemerkt die Lehrerin, als Kai erneut einige Sekunden lang zögert. Dieser guckt die Lehrerin kurz unsicher an und nimmt anschließend eine Mitschülerin dran. Diese nennt die richtige Zahl, woraufhin Kai die genannte Zahl neben dem Wochentag aufhängt. Danach fragt er die Klasse, wer das gesamte Datum vorlesen kann. Diesmal nimmt er direkt einen Schüler dran, welcher das vollständige Datum korrekt vorliest.
„Wer fühlt sich heute warm?“, fragt Kai. Zahlreiche Finger gehen in die Höhe. Andere Kinder überlegen, schauen nach draußen und heben erst nach einigen Sekunden die Hand. Kai beginnt leise für sich durchzuzählen. „Wer fühlt sich kühl?“, fragt Kai weiter, wartet die Meldungen der Klassenkameraden ab und zählt erneut leise für sich durch. „Und wer fühlt sich kalt?“, fragt Kai ein letztes Mal. Nur ein Kind meldet sich, was Kai mit einem Blick wahrnimmt. Er guckt mit seinen Augen nach oben, überlegt offensichtlich kurz und schildert im Anschluss, dass das Schild an der Tafel hängen bleiben kann, da sich die Mehrheit der Klasse warm fühlt.
„Wie ist das Wetter heute?“, fragt Kai weiter und blickt dabei nach draußen aus dem Fenster. Dies machen auch alle seine Klassenkameraden bevor sie sich melden. Ehe Kai eine Mitschülerin drannimmt, schwenkt er seinen Blick einige Sekunden lang unsicher durch die Klasse. Die ausgewählte Schülerin erklärt im Stehen, dass draußen die Sonne scheint. Kai dreht sich, nimmt das Schild mit Wolken ab und ersetzt es durch ein Schild mit einer Sonne.
Danach dreht er sich um und blickt seine Klassenkameraden fragend an. Zwei von ihnen zeigen wortlos auf eine weitere Tafel rechts neben der großen Haupttafel. Diese enthält den durch Kärtchen dargestellten Stundenplan. Dort begibt Kai sich nun hin und fragt die Klasse, wie der Tagesablauf heute aussieht. Ein weiteres Mal gibt es zahlreiche, energische Meldungen. Diesmal nimmt Kai zügig einen Schüler dran, der der Klasse mit lauter Stimme den Stundenplan vorliest. Der Rest der Klasse hört dabei aufmerksam zu, da alle Blicke nach vorne gerichtet sind.
Im Anschluss setzt sich Kai wieder auf seinen Platz. Damit ist das Morgenritual nach ca. 12 Minuten nach Schulstundenbeginn beendet und die Lehrkraft übernimmt das Wort.
5.2 Analytische Ansätze I: Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler
Das Morgenritual der Klasse 2a besteht aus einer festgelegten Abfolge von Handlungen, die von den Schülerinnen und Schülern aktiv und gemeinsam gestaltet werden. Unter der Leitung von Kai, einem Schüler der Klasse, folgt das Ritual einem klaren Schema, das sowohl körperliche als auch sprachliche Praktiken umfasst.
Das morgendliche Ritual beginnt damit, dass die Lehrkraft den Schüler Kai als Leiter des Rituals auswählt (vgl. Z. 1f.). Kais Reaktion zeigt, wie wichtig ihm die Auswahl / Bestimmung als Leiter ist, was auf die Bedeutung des Rituals für die Schülerinnen und Schüler hindeutet (vgl. Z. 4).
Mit der Frage nach dem aktuellen Schultag leitet Kai das Morgenritual inhaltlich ein (vgl. Z.5). Die Schülerinnen und Schüler melden sich daraufhin, um die Frage zu beantworten, indem sie den konkreten Schultag nennen. Das Heben der Hand, eine zentrale körperliche Praktik, signalisiert dabei nicht nur die Bereitschaft zur Teilnahme, sondern unterstreicht auch die Akzeptanz der ritualisierten Ordnung, in der klar geregelt ist, wer wann sprechen darf (vgl. Z. 6). Kai entscheidet, welches Kind antworten soll, wodurch die Sequenz fortgesetzt wird (vgl. Z. 7f.). Durch die ausgewählte Schülerin wird in diesem Teil des Morgenrituals die Anzahl der Schultage nun gezählt (vgl. Z. 8ff.). Dies geschieht nicht nur verbal, sondern auch visuell auf einem dafür vorgesehenen kleinen Brett (vgl. ebd.; siehe Abbildungsverzeichnis).
An die Bestimmung des Schultages schließt sich die Frage nach dem aktuellen Wochentag an, die ebenfalls durch die Interaktion zwischen Kai und der Klasse 2a bearbeitet wird (vgl. Z. 17). Hier antworten die Schülerinnen und Schüler verbal, indem sie den Wochentag benennen, woraufhin Kai die Tage auf einer entsprechenden Tafel visualisiert (vgl. Z. 22f.; siehe Abbildungsverzeichnis). Diese Praktiken verdeutlichen, wie sprachliche und körperliche Beiträge ineinandergreifen, um die Struktur des Rituals zu realisieren. Kai reagiert jeweils auf die Antworten, indem er sie bestätigt, visualisiert und anschließend die nächste Frage einleitet, wodurch die Abfolge des Rituals nahtlos fortgesetzt wird.
Ein weiterer zentraler Bestandteil des Morgenrituals ist die Überprüfung des Datums, bei der die Schülerinnen und Schüler wieder aktiv eingebunden werden (vgl. Z. 24f.). Auch hier melden sie sich, um die richtige Tages-, Monats- und Jahreszahl zu nennen, die dann von Kai durch entsprechende Kärtchen visualisiert wird (vgl. Z. 28ff.; siehe Abbildungsverzeichnis). Diese inhaltliche Dimension des Rituals zeigt, wie die Klasse 2a durch ihre sprachlichen Beiträge die Inhalte des Rituals konkretisiert und damit aktiv gestaltet. Ihre Antworten sind dabei immer in die vorgegebene Struktur eingebettet, die Kai durch seine Rolle als Leiter des Rituals vorgibt.
Nach der Bestimmung des Datums wendet sich die Klasse der Bestimmung der gefühlten Temperatur zu (vgl. Z. 32ff.). In diesem Schritt beschreiben die Schülerinnen und Schüler, wie sich die Temperatur anfühlt und drücken ihre individuellen Empfindungen mit Begriffen wie ‚warm‘, ‚kühl‘ oder ‚kalt‘ aus. Kai führt die Klasse hier durch eine Abstimmung, da sich die Schülerinnen und Schüler zu jedem Begriff melden können und Kai jedes Mal durchzählt, um am Ende die Mehrheit zu ermitteln und die entsprechende gefühlte Temperatur aufzuhängen (vgl. ebd.; siehe Abbildungs-verzeichnis).
Neben der gefühlten Temperatur wird auch das Wetter ermittelt (vgl. Z. 40ff.). Bevor die Schülerinnen und Schüler Kais Frage beantworten, schauen sie nach draußen, um sich über die genaue Wetterlage zu informieren (vgl. ebd.). Auch hier kommt es zu sprachlichen und körperlichen Handlungen, da Kai nach der Antwort seiner Mitschülerin ein zum Wetter passendes Schild aufhängt (vgl. Z. 43ff.). So wird auch das Ergebnis dieses Teils des Morgenrituals visualisiert.
Die letzte Phase des Morgenrituals besteht aus dem Vorlesen des Tagesablaufs (vgl. Z. 49f.). Dazu nimmt Kai einen Schüler dran, der laut und deutlich vorträgt, welche Inhalte und Aktivitäten im Laufe des Schultages geplant sind (vgl. Z. 50f.). Dazu liest er den Stundenplan vor, der in Form von Kärtchen an einer weiteren Tafel hängt (vgl. Z. 47f.). Diese Praktik dient der Klasse 2a als Orientierungshilfe, da sie einen Überblick über die kommenden Stunden gibt. Die Schülerinnen und Schüler nehmen diesen Teil des Rituals konzentriert wahr, was sich an der aufmerksamen Haltung der Klasse zeigt (vgl. Z. 51f.). Die Darstellung des Tagesablaufs wird so zu einem verbindenden Moment, der die Gemeinschaft stärkt und gleichzeitig den Übergang in die Unterrichtsphase vorbereitet.
Das Ende des Rituals wird dadurch markiert, dass Kai sich wieder hinsetzt (vgl. Z. 53). Diese körperliche Handlung stellt einen klaren Abschluss dar und signalisiert den Übergang in die nächste Phase des Schultages, da nun die Lehrkraft wieder übernimmt. Erst durch diese letzte Handlung wird das Ritual als abgeschlossen wahrgenommen und die Klasse 2a geht nahtlos in den Unterricht über.
Das gesamte Ritual zeichnet sich durch einen regelmäßigen und sich wiederholenden Ablauf aus, der den Schülerinnen und Schülern Orientierung und Sicherheit gibt. Das Ritual fordert damit aktives und koordiniertes Handeln ein. Die Klasse übernimmt Verantwortung für das Gelingen, indem sie den Ablauf durch ihre Beiträge unterstützt und die festgelegte Reihenfolge einhält. Auch wenn Jan der Hauptakteur ist, entsteht die Dynamik des Rituals erst durch das Zusammenspiel aller Beteiligten.
Die Körperlichkeit der Praktiken – insbesondere das Heben der Hand – spielt eine wichtige Rolle bei der Organisation der sozialen Interaktion. Sie schafft nicht nur eine geordnete Abfolge der Beiträge, sondern symbolisiert auch die Zugehörigkeit zur Klasse und die Bereitschaft, an der gemeinsamen Praxis teilzunehmen. Gleichzeitig sind die sprachlichen Beiträge der Schülerinnen und Schüler entscheidend, um den Inhalt des Rituals hervorzuheben und fortzuführen. Die wiederkehrende Struktur stärkt die Verlässlichkeit des Rituals und ermöglicht es der Klasse 2a, sich sicher in der sozialen Ordnung zu bewegen.
Durch die aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler wird das Morgenritual nicht nur als wiederholte Handlung ausgeführt, sondern als soziale Praxis gemeinsam gestaltet. Die klare Struktur und die regelmäßige Wiederholung ermöglichen es den Kindern der Klasse 2a, ihre Rolle in der Klassengemeinschaft einzunehmen und den Übergang in den Schultag geordnet zu gestalten. In dieser Interaktion zeigt sich, wie die Schülerinnen und Schüler durch körperliche, sprachliche und inhaltliche Beiträge eine stabile und gemeinsame Struktur schaffen, die das Morgenritual als zentrale Praxis des Klassenalltags prägt.
5.3 Beobachtung 2: Fokus auf die Lehrkraft
„Wer möchte das Morgenritual leiten?“, fragt die Klassenlehrerin mit gut gelaunter Stimme und einem Lächeln. Dabei sitzt sie vorne an ihrem Pult auf ihrem Stuhl und ist der Klasse zugewandt. Sofort schnellen zahlreiche Finger der Kinder nach oben. Die Lehrerin schwenkt zunächst ihren Blick durch die Klasse, ehe sie sich zu ihrem Pult umdreht und auf eine Liste schaut (Die Liste zeigt, welche Schülerinnen und Schüler das Morgenritual bereits geleitet haben und welche noch nicht). „Timo darf noch, Elias auch, Lena, Mia, Lea dürfen auch noch, Hayal auch und Kai“, zählt sie laut und deutlich auf. Danach wendet sich die Klassenlehrerin wieder ihrer Klasse zu und schwenkt ihren konzentrierten Blick erneut durch die Klasse. „Elias“, sagt sie mit einem Lächeln.
– Der Ablauf des Morgenrituals durch die Schülerinnen und Schüler verläuft ohne Auffälligkeiten –
„Kühl?“, fragt Elias in die Klasse hinein. Einige Kinder melden sich, woraufhin Elias durchzählt. Währenddessen sitzt die Klassenlehrerin weiterhin vorne auf ihrem Stuhl und zeigt mit ihrem rechten Zeigefinger nacheinander auf die Kinder, die sich melden. Mit leiser, aber dennoch hörbarer Stimme zählt sie ebenfalls durch. „Acht?“, fragt Elias mit unsicherer Stimme und schaut dabei seine Klassenlehrerin fragend an, die die Antwort daraufhin mit einem kurzen Nicken bestätigt. Elias fährt fort und fragt seine Mitschülerinnen und Mitschüler: „Kalt?“ Daraufhin melden sich zahlreiche Kinder. Elias guckt eine kurze Zeit durch die Klasse und sagt mit einem Lachen anschließend „Jetzt bin ich überfordert“ und blickt dabei zu seiner Lehrerin. Diese hat selbst ihre Hand gehoben und in der Zeit erneut durchgezählt. „Ich habe mitgezählt“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Soll ich es dir verraten?“, fragt sie Elias mit flüsternder Stimme und einem Zwinkern. Elias nickt lachend und die Lehrerin antwortet mit „16“. Daraufhin fährt er mit dem Morgenritual fort.
Elias begibt sich an die nächste Tafel, an der mit laminierten Karten der Stundenplan für den heutigen Tag hängt. Gerade als er anfangen will, den Stundenplan laut abzulesen, quatscht ihm ein Mitschüler mit lauter und verwunderter Stimme rein: „Hää!! Wir haben doch erst Deutsch und nicht Mathe!“ Nun steht die Klassenlehrerin von ihrem Stuhl auf und ermahnt mit ernstem Ton den Schüler, dass er sich doch bitte melden solle und jetzt nicht dran sei. Nachdem Elias den Stundenplan vorgelesen hat, geht die Lehrerin zur ‚Stundenplan-Tafel‘ und tauscht zwei Kärtchen. „Es gibt noch eine Änderung. Statt Musik machen wir in der vierten Stunde einen Klassenrat“, verkündet sie lächelnd.
5.4 Analytische Ansätze II: Die Perspektive der Lehrkraft
Das Morgenritual in der Klasse 2a wird durch verschiedene Praktiken der Lehrkraft gestaltet, die den gesamten Ablauf strukturieren und begleiten. Diese Praktiken lassen sich in verschiedene Handlungsmuster einteilen.
Die Lehrkraft eröffnet das Morgenritual mit einer offenen Frage („Wer möchte das Morgenritual leiten?“ (Z.1)), begleitet von einem freundlichen Lächeln und einer gut gelaunten Stimme (vgl. Z. 1f.). Diese Eröffnungshandlung schafft einerseits eine positive Atmosphäre und legt andererseits den organisatorischen Rahmen fest. Indem die Lehrkraft eine Auswahl unter den Kindern trifft, die sich gemeldet haben, entscheidet sie aktiv, wer die Verantwortung für das Ritual übernimmt. Dabei prüft sie eine Liste, um sicherzustellen, dass alle Kinder gerecht berücksichtigt werden (vgl. Z. 4f.). Diese Praktik zeigt, dass die Lehrkraft nicht nur eine strukturierende Rolle einnimmt, sondern auch eine Form von Gerechtigkeit und Kontinuität im Ritual herstellt.
Während das ausgewählte Kind das Ritual leitet, bleibt die Lehrkraft an ihrem festen Platz vorne im Klassenraum sitzen (vgl. Z. 2; vgl. Z. 11). Diese räumliche Position ermöglicht es ihr, den Überblick über das Geschehen zu behalten und gleichzeitig ihre Präsenz deutlich zu machen. Ihre aktive Beteiligung zeigt sich in der ständigen Kontrolle des Ablaufs: Sie zählt die sich meldenden Schülerinnen und Schüler mit durch, um die Richtigkeit der Zählung des Schülers zu überprüfen, und bestätigt das Ergebniss von Elias mit einem Nicken (vgl. Z. 15). Als er überfordert wirkt, greift die Lehrkraft mit leiser Stimme und einem unterstützenden Augenzwinkern ein (vgl. Z. 16ff.). Hier wird deutlich, wie die Lehrkraft mit nonverbalen und verbalen Mitteln die Balance zwischen Kontrolle und Unterstützung hält. Dies trägt zu einem flüssigen Ablauf des Rituals bei und stärkt gleichzeigt die Rolle des Schülers als Leiter.
Darüber hinaus greift die Lehrkraft aktiv in den Ablauf ein, sobald ein Schüler unaufgefordert das Wort ergreift. Indem sie aufsteht und in ernstem Ton auf den Regelverstoß hinweist, demonstriert sie ihre Autorität und stellt die soziale Ordnung innerhalb des Rituals wieder her (vgl. Z. 26ff.). Diese Intervention markiert eine klare Grenze, innerhalb derer sich das Ritual abspielen soll, und verdeutlicht das Machtverhältnis zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern. Dennoch bleibt ihre Grundhaltung ruhig und konstruktiv. Deutlich wird hier, dass sie bemüht ist, die Integrität des Rituals zu wahren, ohne die Atmosphäre unnötig zu belasten.
Ein weiterer Aspekt des Morgenrituals ist die Flexibilität der Lehrkraft. Nachdem Elias den Stundenplan vorgestellt hat, nimmt sie eine Änderung vor, indem sie zwei Stunden austauscht und eine neue Aktivität ankündigt (vgl. Z. 28ff.). Diese Handlung zeigt, dass die Lehrkraft nicht nur auf die Struktur des Rituals achtet, sondern auch darauf, aktuelle Informationen oder Anpassungen zu ermöglichen und einzubauen. Dabei bleibt sie freundlich und vermittelt die Änderung in einem entspannten Ton, das zu einer positiven Grundstimmung beiträgt (vgl. Z. 31).
Insgesamt gestaltet die Lehrkraft das Ritual performativ, indem sie durch ihre Haltung, Stimme und Gestik eine Atmosphäre schafft, die gleichzeitigt konzentriert und locker wirkt (vgl. Wulf 2008a, S. 72; vgl. Wulf 2008b, S. 331). Diese Performativität trägt wesentlich dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler das Ritual als geordnet und dennoch ansprechend wahrnehmen (vgl. ebd.). Ihr Handeln ist dabei nicht statisch, sondern dynamisch: Sie wechselt zwischen den Positionen der Moderatorin, der Unterstützerin und der Autoritätsperson – je nachdem, was die Situation erfordert.
Die Analyse des Fokus auf die Lehrkraft zeigt, dass sie durch eine Kombination aus strukturierten und flexiblen Praktiken das Morgenritual in der Klasse 2a gestaltet. Sie agiert als zentrale Akteurin, die den Ablauf initiiert, überwacht und gegebenenfalls korrigiert, während sie gleichzeitig Unterstützung und Orientierung bietet. Ihr Handeln schafft eine Balance zwischen Kontrolle und Autonomie für die Schülerinnen und Schüler, wodurch das Ritual sowohl eine klare Ordnung als auch Raum für individuelle Beteiligung ermöglicht.
Das vorliegende Studienprojekt beleuchtet das Morgenritual der Klasse 2a und stellt dessen Strukturen und Funktionen in den Kontext ritueller Praktiken, wie sie Wulf (vgl. Wulf 2008a, S. 72; vgl. Wulf 2008b, S. 331) beschreibt. Dabei zeigt sich eindrucksvoll, dass Wulfs (vgl. ebd.) theoretische Annahmen durch die beobachtete Praxis bestätigt werden. Rituale zeichnen sich durch ihren performativen Charakter aus, indem sie soziale Gemeinschaft herstellen, Orientierung bieten und Machtverhältnisse strukturieren (vgl. ebd.). Diese Merkmale werden im Morgenritual der Klasse 2a deutlich. Die regelmäßige und vorgegebene Handlungsabfolge bietet den Schülerinnen und Schülern Sicherheit und Kontinuität. Gleichzeitig wird durch die aktive Beteiligung der Kinder eine soziale Ordnung geschaffen, die sowohl durch die Rolle der Lehrkraft als auch durch die Interaktionen der Kinder untereinander geprägt ist.
Der Ablauf des Morgenrituals folgt dabei einer festen Struktur, die aus mehreren Schritten besteht. Zunächst wählt die Lehrkraft ein Kind aus, das die Leitung des Rituals übernimmt. Dieses beginnt mit der Bestimmung des aktuellen Schultages, gefolgt von der Bestimmung des Datums. Danach wird die gefühlte Temperatur der Schülerinnen und Schüler durch eine Abstimmung ermittelt, bevor das aktuelle Wetter beobachtet und festgehalten wird. Abschließend wird der Stundenplan des Tages vorgelesen. Dieser strukturierte Ablauf verdeutlicht die von Wulf (vgl. Wulf 2008a, S. 72; vgl. Wulf 2008b, S. 331) beschriebene Bedeutung von Regelmäßigkeit und Wiederholung in Ritualen, die den sozialen Zusammenhalt stärken und Übergänge gestalten. Die Dynamik des Rituals ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Handlungen von Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, wodurch der performative Charakter des Rituals besonders deutlich wird.
Die zentralen Akteure des Morgenrituals – die Lehrkraft und die Schülerinnen und Schüler – übernehmen in dem Morgenritual spezifische Rollen. Die Lehrkraft initiiert und strukturiert den Ablauf, behält die Kontrolle über das Geschehen und greift unterstützend ein, wenn Unsicherheiten auftreten, wie z.B. beim Auszählen der Stimmen. Ihre Rolle als Autoritätsperson und Moderatorin ermöglicht einen geordneten Ablauf des Rituals und schafft gleichzeitig Raum für die aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler. Diese wiederum übernehmen Verantwortung, indem sie zentrale Aufgaben im Ritual übernehmen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Leitung des Rituals durch ein Kind, das durch die gestellten Fragen und die Durchführung von Abstimmungen die Klasse aktiv in das Morgenritual mit einbezieht. Die Schülerinnen und Schüler gestalten das Ritual insgesamt aber gemeinsam, was nicht nur ihre Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft stärkt, sondern auch eine soziale Ordnung herstellt, die durch die Regeln des Rituals vorgegeben wird. Stellt man die zuvor beschriebenen Rollen der Akteure im Morgenritual gegenüber, werden die Machtverhältnisse noch einmal deutlich. Die Lehrkraft behält durch ihre räumliche Position, ihre nonverbalen Signale sowie durch ihre Entscheidungsgewalt darüber, wer die Leitung übernimmt, eine zentrale Kontrollfunktion. Diese Machtverhältnisse schaffen einerseits Struktur und Orientierung, lassen andererseits aber auch Raum für die individuelle Beteiligung und Verantwortung der Schülerinnen und Schüler.
Die beobachteten Interaktionen und Handlungen bestätigen auch die von Wulf (vgl. Wulf 2008a, S. 72; vgl. Wulf 2008b, S. 331) betonte Bedeutung von Körperlichkeit und performativer Inszenierung. Das Heben der Hände bei Abstimmungen, das Aufhängen von Karten mit den Wochentagen oder das Vorlesen des Stundenplans sind Beispiele für körperliche und sprachliche Praktiken, die die Dynamik und Struktur des Rituals prägen. Die wiederkehrende Struktur und die aktive Teilnahme schaffen ein stabiles Umfeld, in dem sich die Schülerinnen und Schüler sicher bewegen können.
Die gewonnenen Erkenntnisse bieten darüber hinaus Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen. Während sich diese Studie auf das Morgenritual einer bestimmten Klasse konzentriert, wäre es interessant, weitere und unterschiedliche Rituale in anderen Klassen oder Schulformen zu untersuchen. Beispielsweise könnten Morgenrituale analysiert werden, die durch andere kulturelle oder pädagogische Hintergründe geprägt sind. Ebenso wäre es spannend, Rituale außerhalb des schulischen Kontextes zu untersuchen, wie etwa in der Jugend-, Freizeitpädagogik oder auch im familiären Kontext. Diese Erweiterung des Forschungsfokus könnte nicht nur die Bandbreite ritueller Praktiken verdeutlichen, sondern auch Aufschluss über deren unterschiedliche Funktionen und Wirkungen geben.
Zusammenfassend unterstreicht die vorliegende Ethnografische Studie die zentrale Rolle von Ritualen im Schulalltag. Das Morgenritual der Klasse 2a zeigt exemplarisch, wie durch eine klare Struktur und regelmäßige Wiederholung soziale Gemeinschaft, Orientierung und Kontinuität geschaffen werden.
Abschließend ist es aber auch wichtig zu erwähnen, dass die Ergebnisse meines Studienprojekts als nicht objektiver Prozess verstanden werden können. Stattdessen wird die Forschung maßgeblich durch die Perspektive und die Rolle des Forschenden geprägt. Wie Breidenstein (Breidenstein et al. 2020, S. 41) betont, sind Beobachtungs-protokolle stets „interpretativ, analytisch und kommunikativ“. Sie spiegeln nicht nur das Geschehen im Forschungsfeld wider, sondern auch die selektive Wahrnehmung und die interpretativen Entscheidungen des Forschenden. Dennoch kann ich die aufgelisteten Erkenntnisse für meine zukünftige Tätigkeit als Lehrkraft nutzen, um Rituale gezielt so einzusetzen, dass sie nicht nur den Übergang in den Unterricht erleichtern, sondern auch das soziale Miteinander und die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler fördern.
[1] Name anonymisiert.
[2] Auf diesem Zettel wird notiert, welche Kinder bereits das Morgenritual geleitet haben.
[3] siehe Abbildungsverzeichnis.
[4] Die Liste zeigt, welche Schülerinnen und Schüler das Morgenritual bereits geleitet haben und welche noch nicht.
[5] Alle verwendeten Namen sind anonymisiert.