1. Einleitung
Die Frage nach der Partizipation von Schüler*innen am Schulleben ist ein zentrales Anliegen der modernen Bildungsforschung und eng mit den Grundsätzen demokratischer Erziehung verbunden. Partizipation bedeutet in diesem Zusammenhang mehr als nur die formale Einbindung von Schüler*innen in Entscheidungsprozesse – sie umfasst vielmehr die aktive Mitgestaltung von schulischen Abläufen und die Möglichkeit, eigene Interessen, Anliegen und Perspektiven einzubringen und zu initiieren. Bereits in der Grundschule soll auf die Wichtigkeit des demokratischen Verständnisses und der sozialen Teilhabe aufmerksam gemacht und deren Förderung angestrebt werden (vgl. Budde, 2010, S. 384). Doch obwohl Partizipation als Ziel vieler pädagogischer Konzepte und Leitlinien vorausgesetzt wird, zeigt sich in der Praxis häufig ein Spannungsfeld – ein Dilemma – zwischen dem Anspruch auf Mitbestimmung und den strukturellen Vorgaben der schulischen Institution (vgl. Gruhn, 2024, S. 164).
Ein besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang der Morgenkreis, der in vielen Grundschulen eine fest verankerte Unterrichtsform darstellt. Als ritualisierte Versammlung zu Beginn des Schultags in einem Kreis dient er nicht nur organisatorischen Zwecken, sondern soll auch Raum für soziale Interaktion und die Stärkung der Klassengemeinschaft bieten (vgl. Heinzel, 2016, S. 8). Wie in anderen schulischen Unterrichtsformen kann der Morgenkreis hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten auf ambivalente Strukturen hinweisen. Bieten Lehrkräfte durch scheinbare Chance für Teilhabe und Mitgestaltung tatsächlich Partizipationsmöglichkeiten für die Schüler*innen an? Wie lässt sich die Partizipation im Morgenkreis charakterisieren? Gibt es überhaupt Raum für Partizipation im schulischen Setting, insbesondere im Morgenkreis? Dient der Morgenkreis lediglich als symbolische Form der Mitgestaltung? Mit diesen Fragen wird sich die kommende Arbeit beschäftigen, wobei die zentrale Forschungsfrage wie folgt lautet: Inwieweit ermöglicht der Morgenkreis Partizipation am Schulleben für die Schüler*innen?
Um diese Frage zu beantworten, wird in der vorliegenden Arbeit ein Beobachtungsprotokoll aus einer zweiten Klasse einer Grundschule herangezogen und analysiert. Dabei wird untersucht, wie Partizipation im Morgenkreis konkret umgesetzt wird, welche Formen der Mitbestimmung den Schüler*innen ermöglicht werden und welche Grenzen oder Einschränkungen aus Seiten der Lehrkraft bzw. aus Seiten der institutionellen Vorgaben erkennbar sind. Zunächst erfolgt eine theoretische Einbettung in das Thema, indem die zentralen Begriffe „Morgenkreis“ und „schulische Partizipation“ umfassend beleuchtet werden. Anschließend folgt das zu analysierende Beobachtungsprotokoll, das als Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage dient und somit als Schwerpunkt der Arbeit fungiert. Hier wird ein konkreter Morgenkreis beschrieben, sodass die theoretisch herausgearbeiteten Konzepte und Denkansätze darauf bezogen werden können. Das vorletzte Kapitel beinhaltet die methodische Reflexion, in der die Vorteile und die möglichen methodischen Herausforderungen der teilnehmenden Beobachtung als Untersuchungsmethode diskutiert werden. Beendet wird diese Arbeit mit einem Fazit, in dem die zentralen Erkenntnisse zusammengefasst werden. Ein kleiner Ausblick, der dem Fazit folgt, beinhaltet Fragen, die sich für zukünftige Forschungen im Bereich schulischer Partizipation und Morgenkreis stellen.
Ziel dieser Arbeit ist es, ein differenziertes Bild davon zu zeichnen, inwieweit der Morgenkreis als institutionalisierte Unterrichtsform einen Beitrag zur Partizipation am Schulleben leistet. Dabei wird nicht nur die formale Möglichkeit zur Mitbestimmung berücksichtigt, sondern auch die tatsächliche Handlungsmacht der Schülerinnen und Schüler kritisch reflektiert.
2. Theoretische Einbettung
2.1. Der Morgenkreis
Der Morgenkreis ist eine in vielen Grundschulen etablierte Unterrichtsform, die zu Beginn des Schultags als ritualisierte Versammlung der gesamten Klasse im Kreis durchgeführt wird. Dabei fungiert der Morgenkreis nicht nur als organisatorischer Einstieg in den Unterricht, sondern erfüllt auch eine soziale Funktion, indem er die Schüler*innen auf den Schulalltag vorbereitet. Durch das gemeinsame Sprechen über den Stundenplan, Besonderheiten im aktuellen Tag oder das zu erreichende Ziel einer Unterrichtsstunde, führt die Lehrkraft den Unterrichtsanfang ein. Dementsprechend fungiert der Morgenkreis als Übergang von der außerschulischen zur schulischen Lebenswelt der Schüler*innen, da hier eine gemeinsame Realität erzeugt wird (vgl. Heinzel, 2016, S. 7 f.).
Eine weitere zentrale Aufgabe des Morgenkreises besteht darin, die Schulgemeinschaft zu stärken und die Schüler*innen auf die schulischen Abläufe anzubahnen, indem ein Rahmen für gemeinsame Regeln und Verhaltensweisen geschaffen wird. Diese Möglichkeit der sozialen Integration, bei der die Schüler*innen ihre Meinungen frei äußern und das schulische Leben mitgestalten können, fördert das soziale Miteinander. Nicht nur die Interaktion zwischen Gleichaltrigen (intragenerational), sondern auch die Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler*innen (intergenerational) lässt sich im Morgenkreis beobachten (vgl. Heinzel, 2016, S. 8).
Anhand von Goffmans (1969) „Bühnenkonzept“, bei dem die Welt als „Bühne“ betrachtet wird und die Menschen sich in sozialen Interaktionen selbst darstellen, kann der Morgenkreis in diesem Sinne ebenfalls als Bühne verstanden werden. Der Morgenkreis als klassenoffener Unterricht setzt das Setting für die Inszenierung der sozialen Rollen und Erwartungen voraus. Die Schüler*innen lernen, ihre Beiträge in der klassenöffentlichen Kommunikation zu präsentieren und sich in die soziale Ordnung der Klasse einzuordnen. Durch die aktive Teilnahme an Aushandlungsprozessen von bspw. Konflikten, wie die zwischen Peerbeziehungen, lernen die Schüler*innen, ihre Position zu vertreten und sich in der Gemeinschaft zu behaupten (vgl. Heinzel, 2016, S. 11).
Die Rolle der Lehrkraft ist bei der Durchführung eines Morgenkreises nicht zu unterschätzen, denn sie „entscheidet über die Organisationsformen des Morgenkreises, über die Gestaltung der Interkation und die Beteiligungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler im Morgenkreis“ (Heinzel, 2016, S. 109). Sie muss in der Lage sein, eine positive und lernreiche Atmosphäre zu schaffen, in der die Schüler*innen sich trauen über Konflikte zu reden oder Fehler zu machen, ohne ausgelacht oder beschämt zu werden. Gleichzeitig soll die Lehrkraft sich zurücknehmen und den Schüler*innen Raum für Eigeninitiative und schulische Mitbestimmung bieten.
2.2. Partizipation im schulischen Kontext
„Im Schulkontext zielt Partizipation auf die Entwicklung demokratischen Verhaltens und Handelns sowie auf die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern bei schulischen Ereignissen und Entscheidungsprozessen“ (Heinzel, 2016, S. 11). In diesem Zusammenhang sollen den Schüler*innen Handlungsspielräume eingeräumt werden, in denen sie aktiv das schulische Leben mitgestalten können und als handelnde Akteure ihres Lebens betrachtet werden. Schulische Partizipation zielt darauf ab, soziale und kommunikative Kompetenzen zu fördern sowie Verantwortung als auch Mitbestimmung zu ermöglichen.
Basierend auf den Modellen von Hart (1992) und Gernert (1993) hat Schröder (o. J.) ein Stufenmodell der Partizipation entwickelt, um verschiedene Arten der Teilhabe zu unterscheiden. Die unteren Stufen 1-3, also „Fremdbestimmung“, „Dekoration“ und „Alibi-Teilnahme“, beziehen Schüler*innen lediglich scheinbar mit ein. Sie haben keinen direkten Einfluss auf Entscheidungen und gelten dementsprechend nicht als echte Partizipationsformen. Unter „Teilhabe“, „Zugewiesen, informiert“ und „Mitwirkung“ wird die begrenzte Einflussnahme von Schüler*innen verstanden, die zwar informiert werden und vereinzelt mitgestalten können, wobei aber die endgültigen Entscheidungsbefugnisse weiterhin bei den Erwachsenen verbleiben. Erst die siebte Stufe, die „Mitbestimmung“ kann als echte Partizipationsform verstanden werden, da in dieser Stufe die Schüler*innen in Entscheidungsprozessen beteiligt sind, auch wenn die Initiative stets von Erwachsenen ausgeht. Die letzten Stufen, „Selbstbestimmung“ und „Selbstverwaltung“ stellen die Stufen dar, die am meisten durch Partizipation geprägt sind. Die Schüler*innen entwickeln eigene Ideen und Projekte und treffen selbstverantwortlich Entscheidungen (vgl. Schröder, o. J., S. 12 f.).
Laut Gruhn (2024) steht Partizipation nicht nur für Mitwirkung in der Gesellschaft, sondern für das Treffen echter Entscheidungen im schulischen Leben. In der Institution Schule wird Partizipation allerdings aufgrund mehrerer Faktoren eingeschränkt. Formelle Rahmenbedingungen als auch vorher festgelegte Prozesse führen zu einer Verringerung von authentischer Mitbestimmung im schulischen Kontext (vgl. Gruhn, 2024, S. 164). Auch Budde (2010) unterstreicht, dass schulische Partizipation oft durch die strukturellen Bedingungen des Schulsystems begrenzt wird. Neben den Inhalten und Methoden sind auch die verschiedenen Formen des Unterrichts nicht durch Mitbestimmung geprägt. Dies hat zur Folge, dass die Partizipation als eine Art „Zugabe“ verstanden wird, die erst nach der Erfüllung der im Lehrplan auftretenden Aufgaben zum Vorschein kommt (vgl. Budde, 2010, S. 385).
Im Zusammenhang der schulischen Partizipation beschreibt Gruhn (2024) in Anlehnung an Helsper (2004) das Dilemma zwischen der Förderung der Eigenverantwortung bei Schüler*innen und der zeitgleichen Aufrechterhaltung schulischer Kontrolle durch bspw. Bewertungs- und Hierarchiestrukturen als inszenierte Partizipation (vgl. Gruhn, 2024, S. 166). In schulischen Situationen, wie in Kreisgespräche, Morgenkreise oder Klassenratssitzungen wird der Anschein auf Partizipation lediglich geweckt, ohne dass Schüler*innen echte Chancen auf Mitbestimmung bereitgestellt werden. Diese Art der Partizipation und ihre Folgen im schulischen Leben charakterisiert Gruhn wie folgt:
„[…] Kindern/Schüler:innen [wird] häufig nur sehr eingeschränkte Handlungsmacht zur Gestaltung der beforschten pädagogischen Settings eingeräumt und auch in Kontexten in denen Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte und Lernbegleiter:innen die ‚Regie‘ formal an Schüler:innen abgeben, eingeübte Muster und Interaktionen reproduziert werden, die de facto bestehende Machtverhältnisse und Strukturen nicht in Frage stellen. Im Gegenteil führt eine so verstandene Beteiligung, die „als Partizipation deklariert wird“ (Munsch & Müller 2020, 16), gerade nicht zur zunehmenden Autonomie und Emanzipation der Beteiligten, sondern dazu, hierarchisch angelegte Entscheidungs- und Steuerungsprozesse über die Beteiligung von ‚betroffenen‘ Akteuren effektiver zu gestalten und zu legitimieren.“ (Gruhn, 2024, S. 166)
Daraus ergibt sich, dass Partizipation eher der Legitimierung hierarchischer Strukturen und Machtverhältnisse dient, anstatt die Autonomie und Emanzipation zu fördern, auch wenn Lehrkräfte formal Entscheidungsbefugnisse an Schüler*innen abgeben.
3. Beobachtungsprotokoll
Beobachtungsfokus |
Partizipation im Morgenkreis |
Datum, Ort |
Dienstag, 19.11.2024, Westdeutschland |
Beobachtungszeitraum |
8:00-8:15 Uhr |
3.1. Die Situation
Die beobachtete Situation findet in einer Grundschule in einer Stadt in Westdeutschland statt. Es handelt sich um eine zweite Klasse mit 25 Schülerinnen und Schülern. Wie an den vorherigen Schultagen erfolgt der Unterricht in Präsenz. Als teilnehmende Beobachterin befinde ich mich in der hintersten Reihe des U-förmig angeordneten Sitzplans des Klassenzimmers, um das Geschehen möglichst umfassend zu erfassen, ohne die natürlichen Abläufe und Interaktionen zu beeinflussen.
Zum Zeitpunkt der Beobachtung bin ich gemeinsam mit der Lehrkraft bereits im Raum und warte darauf, dass die ersten Schüler*innen den Klassenraum betreten. Nachdem alle Schüler*innen den Raum betreten haben und die Musik der Lehrkraft ertönt, beginnt die Protokollierung meiner Beobachtung. Der Fokus des Beobachtungsprotokolls liegt auf der Interaktion zwischen der Lehrkraft und den Schüler*innen im Morgenkreis. Dabei dokumentiere ich detailliert, wie sowohl die Schüler*innen als auch die Lehrkraft die täglichen morgendlichen Routinen gestalten. Ziel dieser Beobachtung ist es, Partizipationsmöglichkeiten im schulischen Alltag im Morgenkreis, die die Lehrkraft den Schülerinnen und Schülern einräumt, aufzuzeigen und diese zu protokollieren.
3.2. Verdichtetes Beobachtungsprotokoll: Der Morgenkreis als Raum für Partizipation?
Während die ruhige und leicht rhythmische Musik läuft, die die Lehrkraft aus einer Musikbox erklingen lässt, ändert der Datumsdienst selbstständig das Datum, ohne eine zusätzliche Aufforderung durch die Lehrkraft (der Datumsdienst ist aus dem vorherigen Tag bekannt). Die Schülerinnen und Schüler begeben sich zügig in den Bänkekreis. Während die Musik weiterhin läuft, unterhalten sich einige SuS leise miteinander, während andere mit hochgezogenen Augenbrauen zu Frau K. blicken. Frau K setzt sich mit neutralem Blick ebenfalls in den Bänkekreis. Die abgespielte Musik endet, indem Frau K. auf ihrem Handy tippt.
Fast alle Kinder sitzen im Bänkekreis auf ihren Plätzen, die durch Namenssticker versehen sind. Alia steht im Bänkekreis vor Felix, der auf der Bank gegenüber der Tafel sitzt. Mit gerunzelter Stirn schaut sie ihn schweigend an. Einige SuS rufen: „Setz dich einfach hin! Frau K. wartet schon!“ Leon ergänzt laut: „Jetzt Alia!“ Frau K. beobachtet die Situation mit leicht angehobenen Augenbrauen, greift jedoch nicht ein. Alia dreht ihren Kopf zur Lehrkraft und sagt: „Aber er sitzt auf meinem Platz!“ Daraufhin richtet Frau K. ihren Blick auf Felix, ohne etwas zu sagen. Sie hat ihren Kopf etwas zur Seite gesenkt und ihre Arme verschränkt. Felix schaut zur Lehrkraft, senkt seine Schultern und rutscht etwas zur Seite, sodass Alia Platz zum Sitzen findet. Die anderen SuS beobachten das Geschehen kommentarlos und mit fixiertem Blick. Alia setzt sich hin und die Lehrkraft atmet leicht und mit gesenkten Augenbrauen aus. „Endlich!“, ruft Leon.
Das Morgenlied (welches allen bekannt ist) wird gesungen, wobei gleichzeitig passende Gesten nachgemacht werden. Auch die SuS, die in den vorherigen Beobachtungen ein zurückhaltendes Verhalten gezeigt haben, machen die Gesten mit. Nachdem das Morgenlied zu Ende gesungen wurde, erinnert die Lehrkraft an die Dienste, die vergessen wurden: „Beim Betreten des Klassenraums habe ich gesehen, dass der Garderobendienst gestern geschlafen hat. Joline und Nick, geht bitte jetzt raus und holt es nach.“ Leon ruft den beiden hinterher: „Tschüss!“ und winkt ihnen mit einem Grinsen im Gesicht zu. Die Lehrkraft blickt zu Leon, runzelt die Stirn und schüttelt ihren Kopf, woraufhin Leon still wird.
Nachdem die beiden Kinder den Klassenraum verlassen haben, nickt die Lehrkraft Leana zu, die den Fragefächer bereits in der Hand hält (durch Vorwissen ist bekannt, dass jedes Kind – das Tageskind – einmal den Fragefächer vorliest, was durch eine Liste an der Wand vorgegeben wird). Sie beginnt die Morgenroutine, die darin besteht, Fragen aus dem Fragefächer vorzulesen und andere Kinder bei der Beantwortung dieser Fragen dranzunehmen. Das Zeigen eines ausgestreckten Zeigefingers nach oben stellt die Absicht dar, eine Frage beantworten oder etwas sagen zu wollen. Bei schwierigeren Fragen hilft ihr ihr Sitznachbar Richard, der ihr die Fragen vorflüstert, sodass Leana die Fragen laut nachsagen kann. Folgende Fragen befinden sich auf dem Fragefächer: Welchen Tag haben wir heute? Welche Jahreszeit haben wir? Wie ist das Wetter heute? Welches Kind fehlt heute? Was machen wir heute? Jedes Mal haben alle SuS zur Tafel geschaut, als der drangenommene Schüler oder die drangenommene Schülerin etwas von der Tafel vorgelesen hat, um eine Frage zu beantworten (z. B. das Datum oder den Stundenplan). Als Leana bei einer Frage etwas länger braucht, sie vorzulesen, sagt Leon: „Richard, hilf mal!“, der etwas gebeugt und mit Händen auf dem Schoss zu Leana blickt. Leana beginnt, schneller zu blinzeln und zu atmen, während die anderen SuS sie anschauen und mit den Füßen auf den Boden tippen. Als die Frage „Wer fehlt heute?“ vorgelesen wurde, hat Leana 1 gesagt, ihr Nachbar 2, usw. Das Durchzählen stoppt bei Lisa, die starr nach vorne schaut. Leon ruft: „Lisa, du bist 7!“ Lisa schaut mit hochgezogenen Augenbrauen und mit offenem Mund Leon an und sagt verzögert: „7“, sodass das Zählen weitergeführt werden kann. Nick und Joline betreten wieder den Klassenraum. Nach kurzer Zeit und mit der Unterstützung von Richard, hat Leana alle Fragen vorgelesen.
Frau K. zeigt mit einem Finger auf die Tafel, auf der das Wochenziel steht: „Ich arbeite konzentriert und leise an meinem Platz“ und sagt: „Gestern hat es schon gut geklappt. Deswegen hängt bei Montag schon ein Stern. Ich hoffe es funktioniert heute genauso gut“ (durch Vorwissen: Bei 5 Sternen gibt es eine Spielestunde). „Boah, noch vier Sterne!“, kommentiert Leon laut. Nach vermehrten Zwischenrufen und Kommentaren von Leon während des Morgenkreises, sagt Frau K. jetzt: „Leon, du setzt dich jetzt auf deinen Platz! Du störst die anderen!“ Daraufhin seufzt Leon, senkt seine Schultern, verlässt den Morgenkreis und geht langsam zu seinem Sitzplatz.
Schließlich holt die Lehrerin das Mathebuch heraus und beginnt mit dem inhaltlichen Teil der Stunde
4. Analytische Dimensionierung des Beobachtungsprotokolls
Die Analyse des Beobachtungsprotokolls erfolgt vor dem Hintergrund der theoretischen Konzepte zum Morgenkreis und zur Partizipation im schulischen Kontext. Wie in der Einleitung beschrieben, steht die Frage „Inwieweit ermöglicht der Morgenkreis Partizipation am Schulleben für die Schüler*innen?“ im Fokus.
4.1. Kontrolle vs. Autonomie
Das Beobachtungsprotokoll beginnt mit dem gemeinsamen Wiederfinden im Bänkekreis, das durch das Abspielen ruhiger Musik veranlasst wird (vgl. Z. 1 f.). Es liegt in den Händen der Lehrkraft bzw. der schulischen Vorgaben, wann der Unterricht zu beginnen hat. Die Musik entspricht hier einem rituellen Signal, dass den Schüler*innen auf einen bevorstehenden Wechsel, einen „Szenenwechsel“, verweist und dass sie sich in die bekannten Rollen hineinzuversetzen haben (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 60). Eines dieser Rollen ist der Datumsdienst, der ohne zusätzliche Aufforderung der Lehrkraft, seine Aufgabe tätigt (vgl. Z. 2 ff.). Das Ändern des Datums entspricht gemäß dem Partizipationsmodell von Schröder (o. J.) der Stufe 5 „Zugewiesen, informiert“, da der Schüler zwar autonom handelt, die Struktur der Dienste und Entscheidungsmacht jedoch bei Frau K. verbleiben (Schröder, o. J., S. 12 f.). Aus vorherigen Beobachtungen wurde ersichtlich, dass die Lehrkraft entscheidet, dass jeden Montag die Dienste geändert werden und dass jeder Schüler und jede Schülerin für die Organisation und Ordnung im Klassenzimmer und während des Unterrichts mitsorgen müssen. Auf der einen Seite kann argumentiert werden, dass die Lehrkraft den Schüler*innen die Möglichkeit anbieten möchte, sich am Unterrichtsgeschehen und an der räumlichen Ordnung zu beteiligen, indem sie bspw. das aktuelle Datum an die Tafel hängen. So sorgen sie für ein schulisches Setting, der auf den Beginn des Unterrichts ausgerichtet ist. Auf der anderen Seite ist zu hinterfragen, inwieweit sie tatsächlich einen Einfluss auf die Entscheidungen haben, wenn sie zum Beispiel eine Woche keinen Dienst ausüben oder das Datum in einer anderen Form darstellen möchten als die Darstellungsart, die von der Lehrkraft vorgegeben wurde. Frau K. gibt die Rahmenbedingungen der Dienste vor, informiert die Schüler*innen über die zu verrichtenden Aufgaben, aber stellt den Schüler*innen keine Entscheidungskraft zu Verfügung. Das scheinbar autonome Handeln der Schüler*innen ist also die Folge von vorgegebenen Regeln, um den schulischen Ablauf zu kontrollieren. Werden die Aufgaben und Dienste nicht absolviert bzw. nicht ausreichend genug, weist die Lehrkraft die Schüler*innen daraufhin und fordert sie auf, dies zu berücksichtigen. Mit den Worten „Beim Betreten des Klassenraums habe ich gesehen, dass der Garderobendienst gestern geschlafen hat. Joline und Nick, geht bitte jetzt raus und holt es nach“ (Z. 24 ff.) zeigt sie öffentlich, dass eine unzureichende Erledigung einer Aufgabe nicht geduldet wird und nachgeholt werden muss, auch wenn es das Versäumnis der Morgenroutine und des Morgenkreises bedeutet. Joline und Nick betreten erst den Klassenraum, nachdem alle Fragen des Fragefächers vorgelesen wurden (vgl. Z. 49 ff.). Durch die Vergabe der Dienste hat die Lehrkraft nicht nur scheinbare Partizipationsmöglichkeiten angeboten, sondern Schüler*innen gar vom Morgenkreis ausgeschlossen, sodass sie sich erst gar nicht an der Morgenroutine beteiligen konnten, obwohl „[der Morgenkreis] einen Beitrag zur Kindegemäßheit und Schülerpartizipation in der Grundschule zu leisten [verspricht]“ (Heinzel, 2016, S. 8). Budde (2010) argumentiert, dass Partizipation in schulischen Kontexten häufig als eine „Zugabe“ betrachtet wird, die erst nach der Erfüllung curricularer Vorgaben gewährt wird (vgl. Budde, 2010, S. 385). Dies zeigt sich im Protokoll daran, dass Frau K. die Teilhabe am Morgenkreis strikt an die Erledigung des Dienstes knüpft, sodass Joline und Nick erst wieder partizipieren können, wenn der Garderobendienst nachgeholt wurde.
Der Sitzplan des Bänkekreises, der durch Namenssticker versehen ist, weist auf eine weitere kontrollierte Klassenraumgestaltung hin, die durch die Lehrkraft inszeniert wurde, wodurch den Schüler*innen die Chance verwehrt bleibt, sich eigenständig einen Platz zu suchen (vgl. Z. 10 ff.). Alia reagiert irritiert als Felix auf ihrem Platz sitzt. Sie und die anderen Schüler*innen hinterfragen die von der Lehrkraft gesetzten Regeln im Bänkekreis nicht und setzten sich auf ihren zugewiesenen Plätzen hin. Zudem weisen die Schüler*innen Alia darauf hin, dass sie die bekannte, aber hier unausgesprochen Regel verletzt, sich leise in den Bänkekreis hinzusetzen, sodass der Unterricht starten kann (vgl. Z. 11 f.). Zunächst versucht die Lehrkraft sich aus dem Geschehen zu entfernen, um den Schüler*innen die Möglichkeit einzuräumen, das Problem selbstständig zu lösen, indem sie die Situation nicht kommentiert. Als Alia sie jedoch direkt anspricht, bringt sie, allein durch ihre Gestik und Mimik (verschränkte Arme, gesenkter Kopf, auf Felix fokussierter Blick), Felix dazu, zu rutschen, sodass der vorgeschriebene Sitzplan eingehalten wird (vgl. Z. 15 ff.). Dieses Beispiel unterstreicht, dass die scheinbare Mitbestimmung im Morgenkreis stets durch institutionelle Rahmenbedingungen begrenzt bleibt. Gruhn (2024) beschreibt diesen Widerspruch als „inszenierte Partizipation“, bei der die Schüler*innen zwar formale Beteiligungsmöglichkeiten erhalten, jedoch bestehende Machtverhältnisse nicht hinterfragt werden (vgl. Gruhn, 2024, S. 166). Die nonverbale Intervention und Machtkontrolle der Lehrkraft bestätigt Gruhns Argument, dass schulische Partizipation häufig nicht zu Partizipation führt, sondern bestehende hierarchische Entscheidungsprozesse stabilisiert.
Laut Heinzel (2016) „[wird] mit der kreisförmigen Versammlung am Beginn des Schultages die Gemeinschaftsbildung der Schulklasse pädagogisch intendiert […]“ und stets erneuert (Heinzel, 2016, S. 97). Dies wird im Beobachtungsprotokoll ersichtlich als die Klasse gemeinsam das Morgenlied gesungen und die passenden Gesten durchgeführt hat (vgl. Z. 20 f.). Als Gemeinschaft haben sowohl die Schüler*innen als auch die Lehrkraft einheitlich indiziert, dass der Wechsel von der außerschulischen Lebenswelt zur schulischen Lebenswelt stattfindet. Alle Schüler*innen werden miteinbezogen, auch die Schüler*innen die in vorherigen Beobachtungen ein zurückhaltendes Verhalten gezeigt haben. Dies weist darauf hin, dass die Schüler*innen die partizipierende Chance, die die Lehrkraft ihnen vorstrukturiert hat, annehmen und mit Freude und Engagement ausführen.
4.2. Der Morgenkreis als Bühne – Selbstinszenierung und soziale Rollen
Basierend auf Goffmans (1969) „Bühnenkonzept“ dient der Morgenkreis im Beobachtungsprotokoll als soziale Bühne, auf der die Kinder ihre sozialen Rollen innerhalb der Klassengemeinschaft behaupten können (vgl. Heinzel, 2016, S. 11). Besonders deutlich wird dies durch die Zwischenrufe und Handlungen von Leon. Es beginnt damit, dass Leon zu jeglicher Situation, auch zur Auseinandersetzung zwischen Alia und Felix, etwas anmerken möchte, wodurch er seine Rolle in der Klasse als eine Art Moderator stärken möchte. Er verspürt das Bedürfnis seine Gedanken und Gefühle mit der Klasse zu teilen, sodass er Joline und Nick mit einem grinsenden Gesicht verabschiedet, um zu unterstreichen, dass sie sich in diesem Augenblick von der Klasse trennen (vgl. Z. 26). Die Lehrkraft unterbindet die Äußerung von Leon. Frau K. zeigt so indirekt, dass sie Jolines und Nicks nicht vollbrachte Leistung klassenöffentlich kommentieren kann und darf, aber dass sie die Reaktion von Schüler*innen dazu nicht duldet.
Die Leitung der Morgenroutine wird an jedem Tag von einem anderen Kind übernommen, die durch eine Liste an der Wand vorgegeben wird. Mit dieser Methode stellt die Lehrkraft sicher, dass jedes Kind mindestes einmal den Fragefächer benutzt und den Beginn des Morgenkreises leitet. An diesem Tag steht Leana im Mittelpunkt der Vorderbühne und darf als Leiterin die Morgenroutine durchführen, wobei der Fragefächer in diesem Zusammenhang als Requisite dient (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 58). Auch die anderen nehmen ihre sozialen Rollen ein, indem sie der Hauptperson zuhören, nicht dazwischenreden und sich melden, falls sie einen Beitrag zum Morgenkreis leisten möchten. Durch das Übergeben der Regie an die Schülerin, transferiert die Lehrkraft in diesem Moment ihre ‚Macht‘ und lässt Leana die Fragen vorlesen und beantworten. Die Frage, die sich allerdings hier ergibt, ist, ob ‚Macht‘ bzw. echte Beteiligungsmöglichkeiten wirklich übergeben werden. Auch wenn Leana den Fragefächer vorlesen und Schüler*innen drannehmen darf, hat die Lehrkraft doch alle Handlungsfäden in der Hand: sie bestimmt, welche Fragen vorgelesen werden; sie bestimmt, dass das Tageskind jeden Tag wechselt; sie bestimmt, in welcher Reihenfolge dies geschieht und sie bestimmt auch, dass ein Morgenkreis gar stattfindet. Laut Schröder (o. J.) kann dies unter der dritten Stufe, der „Alibi-Teilnahme“ eingeordnet werden. Die Schüler*innen nehmen zwar am Morgenkreis und an der Morgenroutine teil, haben jedoch nur scheinbar Mitgestaltungsmöglichkeiten (vgl. Schröder, o. J., S. 12). Zusätzlich lässt sich erkennen, dass Leana beim Lesen der Fragen unter Druck gerät, was gleichzeitig von allen Schüler*innen zu beobachten ist, da Leana als Hauptfigur der Vorderbühne im Mittelpunkt steht. Die klassenöffentliche Interaktion erfordert von ihr, sich den Blicken und Erwartungen der Gruppe zu stellen. Nachdem Leon erneut das Unterrichtsgeschehen unterbrochen hat, indem er „Richard, hilf mal!“ ruft (Z. 42 f.), wird Leana hektisch, unsicher und unruhig, welches sich an ihrer emotionalen Reaktion widerspiegelt (schnelles Blinzeln, unruhige Atmung). Die Hilfe ihres Mitschülers wird ihr zum Teil aufgesetzt, sodass der Morgenkreis weiter voranschreiten kann. Auch hier lässt sich festhalten, dass die Schüler*innen so von den schulischen Regeln und Bedingungen geprägt sind, dass sie sich gegenseitig erinnern und dafür sorgen, dass der Unterricht stattfinden kann. Dies wird ebenfalls durch den nächsten Zwischenruf von Leon deutlich, als er Lisa darauf hinweist, dass sie das Durchzählen der Klasse stoppen, und mit der Zahl 7 antworten muss (vgl. Z. 46 ff.). Ihre hochgezogenen Augenbrauen und ihr offener Mund können ein Indiz dafür sein, dass sie sich nicht auf die Geschehnisse der Vorderbühne konzentriert und somit den Unterricht verzögert hat.
Das Vorlesen des Wochenziels führt zu Leons letztem Kommentar, bevor er, nach Anweisung der Lehrkraft, sich aus dem Morgenkreis entfernen muss (vgl. Z. 56 ff.). Sie zeigt, dass die Entscheidungsgewalt über die Organisationsform der Beteiligungsmöglichkeiten beim Morgenkreis stets bei ihr liegt, und dass sie es so weit zuspitzen kann, dass sie sogar einzelne Schüler*innen temporär aus der Klassengemeinschaft entfernen kann. Budde (2010) beschreibt diese Situation als Beispiel einer typischen Begrenzung von Partizipation im schulischen Kontext (vgl. Budde, 2010, S. 397). Ohne die anderen Schüler*innen zu fragen, ob das Verhalten von Leon als störend empfunden wird, transferiert Frau K. ihr Befinden auf die gesamte Klasse. Mit gesenkten Schultern und einem Seufzen begibt sich Leon langsam zu seinem Platz (vgl. Z. 57 f.). Laut Heinzel (2016) lernen die Schüler*innen im Morgenkreis, ihre soziale Rolle zu behaupten und innerhalb der bestehenden sozialen Normen zu agieren (vgl. Heinzel, 2016, S. 11). Gleichzeitig bleibt die Autonomie in der Rolleninszenierung eingeschränkt, da die Lehrkraft über den Ablauf und die Anerkennung von Beiträgen entscheidet. Durch Leons Kommentare kann die Perspektivdifferenz zwischen der Lehrkraft und den Schüler*innen erleuchtet werden (Peerperspektive vs. routinierte Unterrichtsperspektive). Leon versucht durch seine Äußerungen mit seinen gleichaltrigen Mitschüler*innen zu interagieren. Die Lehrkraft ist jedoch darauf fokussiert, „das Unterrichtsgeschehen in der Schulklasse geordnet und sinnvoll voranzutreiben“, was laut ihrer Auffassung nicht mit Leons Kommentaren möglich ist, sodass sie dieses ‘Problem‘ versucht zu lösen (Heinzel, 2012, S. 179). Obwohl Leon sich verbal beteiligt und seine Äußerungen sogar teils zum Vorantreiben des Unterrichts dienen, wird er durch die Autorität der Lehrkraft eingeschränkt. Diese Art der Kontrolle verdeutlicht, dass Partizipation eher zur Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse beiträgt als zur Förderung von Autonomie (vgl. Budde, 2010, S. 393).
5. Methodische Reflexion
„Durch fokussiertes Beobachten, das Erstellen von Protokollen und das Weiterbearbeiten zu möglichst dichten Beschreibungen (Geertz, 1983) kann ein distanziertes, ‚befremdetes‘ Verhältnis zum scheinbar Vertrauten eingenommen werden. Das Selbstverständliche wird hinterfragungswürdig und erlaubt neue Zugänge zu biografisch erlernten und gewohnten Praktiken.“ (Lindner & Rosenberger, 2019, S. 63)
Dieses Zitat von Lindner und Rosenberger beschreibt das Ziel und die Methode der vorgelegten Arbeit. Die ethnografische Methode ermöglicht es, soziale Interaktionen unmittelbar im schulischen Kontext zu beobachten, erfassen und detailliert zu dokumentieren. Im Zusammenhang mit der Forschungsfrage eignet sich die Wahl der Methode besonders gut, da Partizipationsmöglichkeiten bzw. Ansätze von Teilhabechancen nicht nur verbal, sondern auch nonverbal durch Körpersprache, Reaktionen und soziale Hierarchien ersichtlich werden. Angebote, die das Mitbestimmen und Mitgestalten in der Gesellschaft und auch in schulischen Kontexten fördern sollen, können aus einer Innenperspektive erfasst und beurteilt werden (vgl. Lindner & Rosenberger, 2019, S. 63). Resultierend werden Sachinhalte und -aspekte, die als selbstverständlich und zielgerichtet erscheinen, hinterfragt und neu interpretiert. So bewirken einige Partizipationsmöglichkeiten, wie in der Analyse dargestellt, nicht das Ziel, dass scheinbar angestrebt werden sollte. Dies wird erst dann erreicht, wenn, laut Breidenstein (2012), drei Distanzstrategien für das ethnografische Beobachten umgesetzt werden (Breidenstein, 2012, S. 42):
- Eine klare Trennung von Beobachten und Handeln ist notwendig, da beides nicht gleichzeitig effektiv erfolgen kann.
- Beobachtbare Situationen sollten in Form von Stichpunkten detailliert und reflektiert festgehalten werden, wobei die Ausformulierung (das verdichtete Protokoll) mindestens doppelt so viel Zeit beanspruchen sollte.
- Innerhalb einer Gruppe erfolgt die Interpretation von Textausschnitten, die Detaillierung von der Beobachtung und die Beachtung der Sequenzlogik am effektivsten, sodass eine reflexiv-analytische Haltung etabliert werden kann.
Demnach muss ein Perspektivwechsel stattfinden. Auch wenn die Beobachtung stets als teilnehmende Beobachtung erfolgt, muss vermieden werden, „[…] Erklärungen oder gar Werturteile aus der eigenen an die „fremde“ Kultur heran zu tragen“, um Erkenntnisse dieser Kultur aus einer Distanz heraus gewinnen zu können (Breidenstein, 2012, S. 29).
Ein zentraler Vorteil ethnografischer Beobachtung liegt in der Möglichkeit, alltägliche Routinen und soziale Interaktionen zu erfassen, sodass implizite Regeln und Routinen sichtbar gemacht werden, wie sie sich im Morgenkreis zeigen (vgl. Lindner & Rosenberger, 2019. S. 67). Im vorliegenden Protokoll werden bspw. implizierte Machtverhältnisse und Formen von Kontrolle durch die Lehrkraft besonders deutlich, obwohl die Förderung von Autonomie erreicht werden sollte.
Allerdingst bringt die ethnografische Beobachtung auch methodische Herausforderungen mit sich. Lindner und Rosenberger (2019) erklären, dass die Verschriftlichung von Beobachtungen „kein bloßes ‚Aufzeichnen‘ von Situationen“ und der Realität, sondern bereits eine Form der Deutung ist (Lindner & Rosenberger, 2019. S. 64 f.). Somit ist jede Beobachtung, inklusive das Beobachtungsprotokoll dieser Arbeit, durch Wahrnehmungen bestehender Annahmen geprägt, die die Analyse zum Teil beeinflussen könnten. Zudem wird die Verfremdung des Vertrauten insofern erschwert, dass Beobachter*innen bereits das schulische Setting kennen und in diesen sozialisiert wurden (vgl. Lindner & Rosenberger, 2019. S. 64). Mögliche Schritte, um dies entgegenzuwirken, ist die mehrfache Beobachtung oder die Beobachtung innerhalb eines Teams zu einer individuellen Situation hilfreich. Schließlich ist noch festzuhalten, dass eine ethnografische Beobachtung sehr zeitintensiv ist, da sie von der Beobachtung zu der Verdichtung bis hin zur Analyse mehrere Teilschritte berücksichtigt. Auch das einmalige Beobachten kann zu einer Einschränkung der Verallgemeinerbarkeit führen. Die angeführten Analyseergebnisse basierend auf dem Beobachtungsprotokoll stellen lediglich eine mögliche Perspektive auf die Forschungsfrage dar.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass die ethnografische Beobachtung eine tiefgehende Analyse sozialer Interaktionen und implizierte Strukturen ermöglicht, indem, trotz methodischer Herausforderungen, wertvolle, lehrreiche und neue Einblicke auf das vermeintlich Selbstverständliche angeboten wird.
6. Fazit
Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit lautete:
Inwieweit ermöglicht der Morgenkreis Partizipation am Schulleben für die Schüler*innen?
Basierend auf den theoretischen Konzepten, zeigt die Analyse, dass der Morgenkreis zwar als strukturierter Raum für soziale Interaktion konzipiert ist, die echten Partizipationsmöglichkeiten für die Schüler*innen jedoch begrenzt bleiben. Werden die Teilhabechance der Schüler*innen mithilfe des Stufenmodells nach Schröder (o. J.) betrachtet, wird ersichtlich, dass sich die Beteiligung lediglich auf den niedrigen Stufen (Stufen 3 bis 5) bewegen. Obwohl nach dem Stufenmodell der Partizipation die siebte Stufe („Mitbestimmung“) echte Möglichkeiten der Teilhabe einräumt, lassen sich im beschriebenen Protokoll hinsichtlich dessen keine Möglichkeiten wiedererkennen. Echte „Selbstbestimmung“ (Stufe 8) oder gar „Selbstverwaltung“ wurde im beobachteten Morgenkreis nicht erreicht. Obwohl Partizipationsmöglichkeiten in Form des Datumsdienstes oder des Vorlesens aus dem Fragefächer, eingeräumt wurden, wird der Morgenkreis durch die Lehrer-Schüler-Hierarchie gekennzeichnet. Die Lehrkraft verfügt weiterhin über die Entscheidungskraft, auch wenn der Anschein erweckt wird, dass dies an die Schüler*innen übergeben wird. Heinzel (2016) fasst in diesem Zusammenhang die Struktur des Morgenkreises wie folgt zusammen:
„[…] so wird die Kreissituation dennoch zuerst von der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer in jeder Grundschulklasse bestimmt, denn die Lehrperson entscheidet über die Organisationsformen des Morgenkreises, über die Gestaltung der Interaktion und die Beteiligungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler im Morgenkreis.“ (Heinzel, 2016, S. 109)
Die aus dem Beobachtungsprotokoll stammenden Situationen (Joline und Nick als Garderobendienst; Alia und Felix im Bänkekreis; Leons Zwischenrufe; Leana als Leiterin der Morgenroutine) bestärken, dass versucht wird, Partizipationsmöglichkeiten einzuräumen, diese aber sehr stark mit den institutionellen Vorgaben geknüpft sind. Zum einen wird die Autonomiechancen im Falle von Joline und Nick durch die Lehrkraft reguliert und eingeschränkt, die darauf besteht, organisatorische Pflichten zu erfüllen, bevor die Teilnahme am Morgenkreis in Frage kommt. Dass Machtverhältnisse im Morgenkreis Auswirkungen haben, zeigt sich am Beispiel von Alia und Felix aber auch in der Situation von Leon. Formale Mitbestimmungsmöglichkeiten sind vorhanden, jedoch ist die tatsächliche Entscheidungsfreiheit der Schüler*innen stark begrenzt, aufgrund von Interventionen seitens der Lehrkraft. Schließlich weist die scheinbare Übergabe der Regie des Morgenkreises an Leana daraufhin, dass die Inhalts- und Ablaufentscheidungen bei der Lehrkraft bleiben, was die tatsächliche Mitbestimmung erneut einschränkt. All diese Handlungen werden laut Goffmanns (1969) Konzepts, auf einer Bühne dargestellt, auf die die Schüler*innen sich selbst inszenieren und ihre sozialen Rollen einnehmen. Ein Akt, welches gegen die Regeln der Bühne, also des Morgenkreises, stößt, resultiert das Ausschließen aus dem Morgenkreises, so wie es im Fall von Leon geschehen ist.
Basierend auf der Forschungsfrage lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Morgenkreis im Beobachtungsprotokoll nur eingeschränkte Partizipation ermöglicht. Es lässt sich eine Wechselwirkung zwischen den gewährten Handlungsräumen der Schüler*innen und von der Lehrkraft in den Händen haltenden Handlungsfäden erkennen. Die Kernverantwortung und Entscheidungsgewalt bleiben bei der Lehrkraft. Der Morgenkreis erfüllt somit weniger die Funktion eines Raumes für tatsächliche Mitbestimmung, sondern dient eher zur Stabilisierung bestehender Hierarchien. Laut Gruhn (2024) unterstreicht dies, dass schulische Partizipation oft dafür dient, institutionelle Machtstrukturen zu legitimieren, ohne sie zu hinterfragen.
Insgesamt kann der Morgenkreis in der ethnografischen Beobachtung als Ort verstanden werden, der Partizipationsmöglichkeiten eröffnen möchte, jedoch aufgrund von curricularen und hierarchischen Grenzen darin verhindert wird. Echte Mitbestimmung bedarf eine kritische Reflexion der bestehenden Strukturen und eine bewusste Autonomieförderung bei den Schüler*innen.
7. Literatur
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Gruhn, A. (2024). Hochschullernwerkstätten und Partizipation. Kritische Anfragen aus der Perspektive der Kindheitsforschung. In V. S. Franz, J. K. Langhof, J. Simon & E. Franz (Hrsg.), Demokratie und Partizipation in Hochschullernwerkstätten (S. 162-169). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2024. DOI: 10.25656/01:28925; 10.35468/6070-13
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Heinzel, F. (2016). Der Morgenkreis: Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen (Pädagogische Fallanthologie, Band 13). Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. https://doi.org/10.25656/01:23129
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