Die Perspektive der „Kinder-AkteurInnen“ – Wie zeigt sich Peerverhalten während des Unterrichts?

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht

Keywords: Peerkultur, Klassenraum, Frontalunterricht, Unterrichtsanfang, Unterrichtsstörungen, Freundschaft, Körpersprache
 

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

In der Schule werden Kinder und Jugendliche im gleichen Alter über einen langen Zeitraum zu Gruppen formiert. Durch den täglichen Kontakt entstehen und entwickeln sich Peerkulturen, deren Praktiken Schule und Unterricht bedingen (vgl. Otto 2015, S. 27). Zschach, Zitzke und Schirner (vgl. 2010, S. 105) stellen heraus, dass Schule grundsätzlich positiv bewertet wird als Raum für Peerkontakte. Am Lernort Schule entstehen Freundschaften und Interaktionen mit Gleichaltrigen, weshalb diesem Ort eine hohe Bedeutung in diesem Kontext beigemessen wird. Die Zugehörigkeit zu funktionierenden Gleichaltrigengruppen und einer Klassengemeinschaft gilt als die wichtigste Schulerfahrung der jungen Lerner1. Dabei kann die innerschulische Interaktion der Peers mit der schulischen Ordnung in ein Spannungsverhältnis geraten. Häufig entwickeln die Gleichaltrigen mit der Schule divergierende soziale Normen und Verhaltenserwartungen (vgl. ebd., S. 106). Schüler bewegen sich deshalb ständig in einem Balanceakt zwischen der Doppelrolle des Schülers und des Peers (vgl. Otto 2015, S. 27).

Peerverhalten wirkt sich im zunehmenden Alter immer mehr auf das Unterrichtsgeschehen aus. Auch Grundschüler legen bereits viel Wert auf die Meinung ihrer Peergroup und passen ihr Verhalten häufig an die Erwartungen ihrer Freunde an. Deshalb macht sich Peerverhalten nicht nur in Pausenzeiten bemerkbar, sondern findet die Kommunikation mit den Peers und die Anpassung an die Verhaltenserwartungen der Gleichaltrigen auch innerhalb des Unterrichts statt (vgl. Zschach et al. 2010, S. 106ff.).

Wagner-Willi (vgl. 2018, S. 58) beschreibt den Lernort Schule als eine öffentliche Bühne, auf der Praktiken teilweise auf Vorder- oder Hinterbühnen stattfinden. So ordnet sie beispielsweise das Schulzimmer zu Unterrichtszeiten eher der Vorderbühne zu, wobei auch diese zur Hinterbühne werden kann, wenn Schülerhandlungen unbemerkt bleiben oder die Lehrkraft den Raum verlässt. Toilettengänge oder Aktivitäten in Pausen hingegen finden überwiegend auf der Hinterbühne statt und bleiben ungesehen. Dort können sich „Subkulturen entfalten […] oder auch Unterrichtssituationen vorbereitet und verarbeitet werden […]“ (ebd., S. 58). Wagner-Willi führt weiterhin auf, dass etablierte Unterrichtssituationen durch peerkulturelle Rahmungen, welche auf der Vor- oder der Hinterbühne stattfinden können, zu Umgestaltungen führen können (vgl. ebd., S. 61).

Die im Rahmen meines Studienprojektes verfasste Seminararbeit setzt sich aus den oben aufgeführten Gründen mit Peerverhalten während der Unterrichtszeiten auseinander und legt den Schwerpunkt auf die Fragestellung, inwiefern sich Peerverhalten während des Unterrichts zeigt. Zunächst wird die methodische Vorgehensweise erläutert, wobei sowohl die ethnographische Forschungsmethode als auch die Rolle des Forschers im Feld vorgestellt wird. Außerdem wird auf die Reaktion der kindlichen Akteure eingegangen. Im Anschluss daran folgt die Vorstellung der Lernkultur der beobachteten Klasse. Danach werden zwei dichte Beschreibungen aufgeführt, welche analytisch dimensioniert werden. Am Ende wird ein Fazit gezogen, welches einen kurzen Ausblick inkludiert.

Methodische Vorgehensweise

Ethnographische Forschungsmethode

Der Unterrichtsalltag lässt sich durch die Ethnographie, welche eine sozial- wissenschaftliche Forschungsstrategie darstellt, untersuchen. Ethnographische Forschung findet sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch in der Unterrichtsforschung zunehmend Anwendung (vgl. Breidenstein 2012, S. 27f.). Ihren Ursprung hat die Ethnographie in der wissenschaftlichen Disziplin der Ethnologie, welche ihren Interessensschwerpunkt auf fremde Länder und Kulturen legt. Ziele der Ethnologie liegen darin, dass der Forscher das für ihn fremde Land bereist, sich in die Kultur einlebt und versucht, diese vorerst fremde Lebensweise zu verstehen (vgl. ebd., S. 27ff.). Die Sicht und Perspektive der Einheimischen sollte dabei vordergründig erfasst und rekonstruiert werden. Dabei sollte der Forscher keine eigenen Werturteile und Erklärungen an das einheimische Volk herantragen, sondern gilt dabei die Distanzgewinnung zu den etablierten Gewissheiten der eigenen Kultur (vgl. ebd., S. 29).

Der schulische Kontext scheint auf den ersten Blick zunächst ungeeignet für die oben beschriebene ethnographische Forschungsmethode, da das Umfeld Schule für den Forscher weniger eine fremde Welt, sondern vielmehr ein vertrautes Erfahrungsfeld ist (vgl. ebd., S. 29f.). Amann und Hirschauer entwickelten jedoch das methodologische Programm „Befremdung der eigenen Kultur“. Dabei geht es nicht darum, sich dem Fremden zu widmen, sondern „[…] ein neues, befremdetes Verhältnis zu dem (scheinbar) Bekannten und (allzu) Selbstverständlichen einzunehmen […]“ (ebd., S. 30). Demnach sollte der Forscher einen neuen Blick auf Gewohnheiten des eigenen Alltags erlangen.

Ethnographische Forschung zielt also darauf ab, alltägliche, selbstverständlich erscheinende Situationen aus einem fremden Blickwinkel zu betrachten. Dafür ist eine forschend-distanzierte Grundhaltung seitens des Forschers erforderlich (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63). Methodisch wird sich dabei vor allem der teilnehmenden Beobachtung bedient (vgl. Breidenstein 2012, S. 27). Der Ethnograph beobachtet das Unterrichtsgeschehen möglichst objektiv, mit dem Interesse an einer präzisen und verallgemeinerungsfähigen Beschreibung (vgl. ebd. S. 31). Während der Beobachtung werden möglichst viele Notizen angefertigt, welche unmittelbar im Anschluss zu dichten Beschreibungen ausgearbeitet werden. Die Beobachtungen werden demnach in Sprache überführt, damit auch Außenstehenden die Situation nachvollziehbar erscheinen kann. Gleichzeitig ermöglicht die Verschriftlichung Distanzierung und Befremdung, indem das Geschehene in Zeitlupe genauer betrachtet wird (vgl. ebd., S. 32). Dabei sollte dem Forscher bewusst sein, dass die Verschriftlichung von Beobachtungen eine sprachliche Erschließung darstellt und somit bereits Deutungen und möglicherweise subjektive Verzerrungen enthält (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63f.).

Das schulische Umfeld wird also insgesamt zu einem Entdeckungsfeld, wobei die Mikrostrukturen des sozialen Geschehens vordergründig sein sollen. Ethnographische Forschung ist um das wissenschaftlich begründete Verstehen-Lernen des gemeinsam hervorgebrachten Alltags mit all seinen Routinen und Ordnungen bemüht (vgl. Wiesemann 2011, S. 167f.). Diese Regeln und Strukturen des alltäglichen Handelns sind den Akteuren häufig nicht bewusst, auch wenn sie das Miteinander im Schulalltag unterbewusst organisieren. Der Forscher beabsichtigt, die Akteure dabei zu beobachten, wie sie ihre Handlungen aufeinander beziehen und gemeinsam den schulischen Alltag bewältigen (vgl. ebd., S. 169). Eine intensive Beobachtung lässt sich nur dann tätigen, wenn die Langfristigkeit der Teilnahme seitens des Forschers gegeben ist. Die Beobachterrolle setzt Vertrauen seitens der Lehrkraft und der Schüler voraus, damit Unterrichtssituationen möglichst unauffällig und unaufdringlich beobachtet werden können. Da viele Merkmale und Details erst nach einigen Anläufen entdeckt werden und sich auch das Vertrauen der T eilnehmer immer weiter ausbaut, sollte der Forscher ausreichend Zeit für seine ethnographische Erhebung einplanen (vgl. Breidenstein 2012, S. 31f.).

Die Rolle als Forscher im Feld

Der Forscher muss eine forschend-distanzierte Haltung einnehmen, da die verschiedenen Sinnebenen schulischer Phänomene nur dann sichtbar werden können. Spezifisches Alltagswissen oder Vorwissen über einzelne Schüler sollte bei der Beobachtung daher unbedingt ausgeblendet werden (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 64). Der Forscher muss um einen Rückzug aus dem Geschehen bemüht sein, welcher der eigentlichen Rolle als Praktikant gegenübersteht. Normalerweise signalisieren Praktikanten gegenüber Schülern und Lehrern stets ihre Hilfsbereitschaft und Eigeninitiative. Als ethnographischer Forscher jedoch sollte man während der Beobachtungen darum bemüht sein, nicht in die Handlungen einbezogen zu werden und möglichst einen objektiven, unvoreingenommenen Blick auf das Gesamtgeschehen zu haben (vgl. ebd., S. 64f.). Gleichzeitig kann sich das durch den Praktikantenstatus bereits bestehende Vertrauensverhältnis jedoch auch positiv auf die Forschung auswirken. Als fester Bestandteil des Schulalltags der Kinder wird meine Anwesenheit von den Schülern nicht hinterfragt und akzeptiert, sodass ich mich direkt im Forschungsfeld befinde. Die Schüler erhielten genügend Zeit, mich als Praktikantin kennenzulernen, weshalb sie Hemmungen und mögliche Ängste bereits ablegen konnten.

Reaktionen des Feldes

Zu Beginn gestaltete es sich schwierig, Freiräume zu schaffen, in denen man nicht in das Unterrichtsgeschehen integriert wurde. Mir war bewusst, dass die Qualität der teilnehmenden Beobachtung nachlässt, wenn ich zeitgleich Aufgaben von Kindern kontrolliere oder Hilfestellungen anbiete. Auch wenn ich der Lehrkraft vorher mitteilte, dass ich mich für Beobachtungen aus dem Geschehen zurückziehen werde, gab es immer wieder Schüler, die meine Hilfe einforderten oder die kurzzeitig ihren Platz verließen, um mich gezielt anzusprechen. Es herrschte Unverständnis darüber, warum ich nicht wie gewohnt als Ansprechpartner und Unterstützer zur Seite stehe. Mein Rückzug wurde weiterhin dadurch erschwert, dass mein Beobachterplatz der gleiche Sitzplatz vorne im Klassenraum war, den ich auch in meiner Praktikantenrolle einnahm. Von dort konnten mich die Schüler sehen und teilweise einsehen, wenn ich Notizen anfertigte. Dennoch war ich stets bemüht darum, Notizen unbemerkt zu machen. Durch die anfänglichen Schwierigkeiten waren meine ersten Beobachtungen unbrauchbar. Ich wurde häufig abgelenkt und konnte mich nicht auf das Beobachten und Beschreiben fokussieren.

Ich entschied mich schließlich dafür, immer wieder kleinere Sequenzen von Unterrichtsgesprächen gezielt zu beobachten, da die Schüler mich in diesen Momenten am wenigstens wahrnahmen. Während die Lehrkraft Erklärungen anführte nahm ich generell meinen Sitzplatz vorne ein, sodass dies nicht ungewöhnlich für die Klasse war. Die meisten Kinder fokussierten die Lehrkraft und die Beiträge der Mitschüler und bemerkten die Anfertigung meiner Notizen deshalb nicht.

Beschreibung der Lernkultur

Die ethnographische Forschung wurde im Rahmen des Praxissemesters an einer kleinen Verbundgrundschule durchgeführt. Der Teilstandort beinhaltet lediglich vier Klassen (einzügig), die von etwa sechs Lehrkräften unterrichtet werden. Das Schulgebäude ist auf acht Klassen ausgelegt, sodass momentan jede Klasse einen eigenen Nebenraum hat, in dem bei Bedarf kleinere Schülergruppen arbeiten können. Eine Besonderheit der Schule ist es, dass die Klassen 1 und 2 jahrgangsübergreifend unterrichtet werden, sodass es zwei Klassen mit Erst- und Zweitklässlern gibt. In diesen Klassen wird das Voneinander Lernen durch ein Helfersystem besonders gefördert. Kinder, die Unterstützung benötigen oder eine Frage zu einer Aufgabe haben sollen zunächst ihren Sitznachbarn oder ein besonders schnelles Kind um Rat fragen, bevor sie die Hilfe der Lehrkraft einfordern. In der dritten Klasse vereinen sich schließlich die ehemaligen Zweitklässler, sodass eine neue Klassenkonstellation entsteht. Die Kinder werden jedoch auch in der zweiten Klasse bereits aneinander gewöhnt, indem der Englisch- und der Musikunterricht mit allen Zweitklässlern (getrennt von den Erstklässlern) gemeinsam stattfindet. Mein Praktikum absolvierte ich zum Großteil in einer dritten Klasse, welche aus 23 Schülern bestand. Seit Beginn der Coronapandemie wird in dieser Klasse überwiegend Wochenplanarbeit durchgeführt. Die Kinder erhalten montags ihren Arbeitsplan für die gesamte Schulwoche. Dort wird kenntlich gemacht, welche Aufgaben an welchem Tag erledigt werden sollten. Aufgaben, die am Schultag nicht erledigt wurden, müssen im Nachmittagsbereich als Hausaufgabe gemacht werden. Manche Kinder erhalten Zusatzaufgaben, die auf Freiwilligkeit beruhen und über das normale Pensum hinausgehen. Außerdem gibt es hinten im Klassenraum Ablagefächer, in denen zusätzliche Aufgaben für Mathe und Deutsch, unterteilt in leichtere (Symbol einer Feder) und schwierigere Aufgaben (Symbol eines Gewichts), ausliegen. Der Beginn einer Unterrichtsstunde erfolgt meist gemeinsam im Plenum. Es werden für die Aufgaben relevante Grundlagen eingeführt oder wiederholt. Nur selten werden Inhalte am Ende der Stunde reflektiert. Die Stunde wird von der Lehrkraft durch ein Klangsignal beendet, welches den Kindern verdeutlicht, dass die Aufgaben weggepackt werden sollen und eine neue Unterrichtsstunde beginnt. Es bedarf dabei nur selten einer zusätzlichen Aufforderung.

Der Beginn meines Praxissemesters war von Wechselunterricht geprägt, sodass immer nur die halbe Klassenstärke anwesend war und jeder Tisch nur von einem Kind besetzt wurde. Viele Kinder konnten sich deshalb monatelang nicht sehen im schulischen Kontext. Die letzten zwei Wochen vor meinen getätigten Beobachtungen fand schließlich wieder Präsenzunterricht für alle Schüler statt. Generell herrscht eine rege Beteiligung am Unterrichtsgeschehen. Es gibt nur wenige Kinder, die sich bei Gesprächen gerne zurückziehen. Alle Kinder können sich der deutschen Sprache sowohl mündlich als auch im Schriftbild ausreichend bedienen. Nur wenige Kinder weisen einen Förderbedarf auf.

Coronabedingt finden keine Gespräche im Sitzkreis statt, sondern erfolgt der Unterricht lediglich frontal und überwiegend in Einzelarbeit. Es werden jedoch immer wieder Partnerarbeitsaufträge erteilt, damit die Kinder auch ohne Anleitung in den Austausch geraten. Die Tische sind alle frontal zu der Lehrkraft ausgerichtet. Es ergeben sich insgesamt vier Tischreihen, wobei immer drei Tische hintereinander angeordnet sind.

Die Beobachtungen

Bei den Beobachtungen handelt es sich aufgrund der begrenzten Wörteranzahl nur um Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen. Die Namen der Kinder wurden anonymisiert.

Situation 1

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Den Kindern habe ich zu Tagesbeginn mitgeteilt, dass ich an diesem Tag Korrekturen für die Lehrkraft vornehme und mich weitestgehend aus dem Unterrichtsgeschehen zurückziehe. Daher wurde mir auch in der ersten Unterrichtsstunde wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ich konnte bereits unauffällig Beobachtungen vornehmen und Notizen dazu anfertigen.

Die Kinder sitzen alle an ihren Zweiertischen, die frontal nach vorne gerichtet sind. Lediglich ein Kind sitzt vorne an einem Einzeltisch. In der ersten Unterrichtsstunde handelte es sich um eine Mathematikstunde, welcher der Morgenkreis vorangestellt wurde. Um 08:30 Uhr beginnt die Deutschstunde. Die Schüler werden pünktlich um diese Uhrzeit durch ein Klangsignal dazu aufgefordert, ihre Mathematiksachen von den Tischen zu räumen und die Deutschunterlagen bereit zu legen. Dieser Vorgang läuft ritualisiert ab und bedarf keiner weiteren Aufforderung. Die Lehrkraft wartet ab, bis dies von allen Schülern erledigt ist und die Klasse die Aufmerksamkeit nach vorne richtet. Dieser Vorgang dauert etwa drei Minuten. Danach kehrt Ruhe ein und der Beobachtungszeitraum beginnt. Er erstreckt sich von 08:33 bis 08:40 Uhr.

Dichte Beschreibung

Aus den folgenden dichten Beschreibungen werden nur die Analysepunkte hervorgehoben, die mir für die Beantwortung meiner Forschungsfrage bedeutsam erscheinen.

Die Lehrkraft klappt die zuvor vorbereitete Tafel auf. Sie stellt sich mit verschränkten Armen seitlich neben die Tafel und fragt, wer den Satz an der Tafel vorlesen kann. Nina, Mona, Maja, Ina, Julia und Lina strecken ihren Arm in die Höhe. Ina dreht sich dabei um und schaut zunächst in Richtung von Nina, dann wendet sie ihren Blick Mona zu. Luca wackelt mit seinen Beinen und richtet seinen Blick auf den Tisch vor ihm. Benedikt spielt mit zwei Stiften. Als er die Lehrkraft ansieht, legt er die Stifte in seine Mappe. Lisa dreht mit ihrem rechten Zeigefinger eine Haarsträhne. Sina schreibt einen Satz auf einen kleinen Zettel. Als Adrian den Satz auf Sinas Zettel zu lesen versucht, hält diese die Hand davor.

Die Lehrkraft schaut durch die Klasse und wählt Lina aus, die den Satz an der Tafel mit lauter und deutlicher Stimme vorliest. Die Lehrkraft fragt daraufhin, wie viele Satzglieder der Satz an der Tafel beinhaltet. Es entsteht eine kurze Pause von ca. 30 Sekunden. Manche Kinder schauen sich zu ihren Mitschülern um. Olaf meldet sich schließlich und sagt mit leiser Stimme: „Drei?“ Er legt den Kopf dabei schief. Die Lehrkraft nickt und erfragt die einzelnen Satzglieder: „Mit welcher Frage fragt man nach dem Subjekt in diesem Satz?“ Nina meldet sich nach ca. zwei Sekunden und sagt in einer ruhigen und sicheren Stimmlage die passende Subjektfrage. Nina schaut kurz in Monas Richtung, welche ihr einen hochzeigenden Daumen entgegenstreckt. Die Lehrkraft wendet sich der Tafel zu, an der sie die passende Frage verschriftlicht. Während sie sich von der Klasse abwendet, schreibt Sina erneut ein paar Wörter auf ihren kleinen Zettel. Adrian lehnt sich zurück und blickt dabei auf den kleinen Zettel. Sina zieht ihre Stirn kraus, setzt einen auf mich ernst wirkenden Blick auf, mit welchem sie Adrian fixiert und sagt leise: „Adrian, das geht dich nichts an.“ Anschließend knüllt sie den Zettel zusammen und legt ihn mit ihrer Hand unter ihrem Tisch auf dem Schoß ab.

Luca dreht sich kurz zu Sina um, richtet seinen Blick aber dann wieder nach vorne als die Lehrkraft zu der Klasse gewandt wissen möchte, wie man das nächste Satzglied erfragt. Maja meldet sich etwas zögerlich. Sie sagt, dass sie sich nicht sicher sei und äußert ihre Vermutung. Als die Lehrkraft mit einem Lächeln ruft: „Genau richtig!“, nimmt Maja eine entspannte Sitzhaltung ein. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Lehrkraft schreibt auch diese Frage mit farblichen Markierungen und Einkreisungen an die Tafel. Sina ruft leise: „Jasmin!“ Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“ Sina schaut sich kurz nach links und rechts um, dann übergibt sie ihr den kleinen Zettel mit dem Zusatz, dass der Zettel für Nina sei. Jasmin versteckt den Zettel schnell in ihrer Mappe als die Lehrkraft noch eine kurze Rückfrage stellt. Sie wackelt dabei mit den Beinen. Olaf tippt Jasmin auf den Rücken und flüstert kaum hörbar: „Jetzt, schnell.“ Jasmin blickt zu der Lehrkraft, welche noch den Satz zu Ende schreibt. Danach überreicht sie den Zettel Olaf. Sina, die das mit ihren Blicken mitverfolgt, flüstert: „Der ist nicht für dich.“ Olaf lässt dies unkommentiert und reicht den Zettel zu Mona. Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe. Die Lehrkraft dreht sich um und sagt mit lauter Stimme: „Das ist mir zu laut hier. Sobald ich mich der Tafel zuwende, höre ich nur Gemurmel!“ Als die Lehrkraft Monas Meldung sieht fragt sie: „Hast du eine Frage oder möchtest du das letzte Satzglied bestimmen?“ Mona stellt ihre Frage, welche die Lehrkraft an die Klasse weitergibt. Sie fordert Mona dazu auf, selbst ein Kind dranzunehmen, welches die Frage beantworten darf. Ina, Julia und Anton melden sich. Mona schaut kurz zu allen drei Kindern, entscheidet sich dann für Julia.

Sina schaut sich währenddessen mit den Beinen wippend zu mehreren Kindern um. Jasmin wendet sich ihr zu und zuckt mit den Schultern. Die Lehrkraft spricht Sina an: „Sina, ist irgendwas?“ Diese zuckt zusammen und winkt kurz angebunden ab. Sie setzt sich auf ihre Hände und lehnt sich gegen die Stuhllehne. Das Unterrichtsgeschehen wird weiter fortgeführt. Es werden noch ein paar farbliche Einkreisungen von der Lehrkraft an der Tafel vorgenommen. Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox. Lennox guckt auf mich ratlos wirkend auf den Zettel, auf dem der Name von Nina steht. Er zeigt mit einem Finger auf den Zettel und guckt dabei in Ninas Richtung. Diese greift nach dem Zettel und guckt sich gleichzeitig in der Klasse um. Als die Lehrkraft sieht, dass Nina etwas in der Hand hält, sagt sie: „Egal was das ist, pack es bitte weg.“ Nina folgt der Anweisung, legt den Zettel in ihre Mappe und macht den Reißverschluss zu. Der Blickkontakt zwischen den Akteuren bricht ab. Sina nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein, legt ihre Hände auf dem Tisch ab und richtet ihren Blick auf die Lehrkraft.

Analytische Dimensionierung

Es ist möglich, dass sich Ina während des Meldens zu Nina und Marie umdreht, um zu schauen, ob diese ebenfalls für die Beantwortung der Frage aufzeigen. Die drei Mädchen verbindet eine enge Freundschaft. Während meiner ethnographischen Forschung ist mir immer wieder aufgefallen, dass die Beteiligung am Unterrichtsgeschehen für diese Peergroup eine große Bedeutung hat. Auch Noten und Rückmeldungen durch die Lehrkraft spielen häufig eine Rolle. In den Momenten des Blickkontaktes verständigen sich die drei Mädchen auf Peerebene. Durch das Aufzeigen sichern sie sich womöglich ihren Status innerhalb der Gruppe (vgl. Zschach et al. 2010, S. 108). Die passende Antwort, die Nina auf die Frage der Lehrkraft anbringt, wird von Mona durch einen hochzeigenden Daumen wertgeschätzt. Nina nimmt nach ihrer Antwort direkt den Blickkontakt zu Mona auf, was darauf hindeuten könnte, dass ihr die Anerkennung durch ihre Peers wichtig ist. Als Mona schließlich eine Rückfrage zu unterrichtlichen Themen hat, darf sie selbst einen Schüler für die Beantwortung auswählen. Sie entscheidet sich für ein Kind außerhalb ihrer Peergroup. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass sie ihren eigenen Status innerhalb der Gruppe nicht herabsetzen möchte.

Ein weiteres Kommunikationsmedium auf Peerebene ist das Schreiben von kleinen Briefchen, welches für Schüler häufig eine große Bedeutung hat. Sie treten damit während des Unterrichts in Kontakt zu ihren Peers, wodurch eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur entsteht (vgl. Bennewitz 2009, S. 119). Die schriftliche Kommunikation bietet den Schülern den Vorteil, dass auch Kinder, die weit entfernt voneinander sitzen, miteinander kommunizieren können (vgl. ebd., S. 122). Außerdem hat das Schreiben am Lernort Schule einen hohen Stellenwert, da diese zentrale Kulturtechnik dort erlernt wird (vgl. ebd., S. 121). Unterrichtliche Anforderungen, wie die Beteiligung an Gesprächen oder das aufmerksame Zuhören, werden für die involvierten Schüler häufig zu einer Nebensache (vgl. ebd., S. 123). Das Geschehen bleibt zunächst unbemerkt und findet auf der Hinterbühne statt. Inoffizielle Peeraktivitäten bilden eine Antistruktur zu der Vorderbühne Unterricht, da die Erwartungen an die Schülerrolle im Kontrast du denen der Peergroup stehen (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61f.). Es besteht außerdem durchgehend die Gefahr entdeckt zu werden, was das Zetteln jedoch für viele Schüler noch interessanter und aufregender macht (vgl. Bennewitz 2009, S. 123). Sina nutzt die bei den Kindern weit verbreitete unterrichtliche Praktik des Briefchenschreibens. In der Beobachtung stellt sich heraus, dass der Zettel an ihre Freundin Nina adressiert ist. Das Zettelschreiben über die räumliche Distanz kann auch als Beziehungszeichen gesehen werden, welches vor der Klasse öffentlich gezeigt wird (vgl. ebd., S. 124f.). Das Zetteln stellt eine intime Kommunikation zwischen den Schreibenden dar, es schließt Dritte bewusst aus und hierarchisiert das Beziehungsgepflecht (vgl. ebd., S. 126).

Sina verhindert mit ihrer Hand, dass Adrian den von ihr verfassten Zettel lesen kann. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass es sich um ein privates Anliegen handelt, welches Sina nicht mit Adrian teilen möchte. Es könnte allerdings auch sein, dass Sina dadurch lediglich noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte oder sie einfach einen geheimnisvollen Akt vollziehen möchte. Adrian richtet seinen Blick weiterhin auf den Zettel. Es könnte sein, dass dies bei ihm zu einer Ablenkung von dem Unterrichtsgeschehen führt, wodurch seine Schülerrolle in den Hintergrund geraten würde. Auch wenn das Zetteln bereits bekannt ist in der beobachteten Klasse, liegt in dieser Praktik immer wieder etwas Geheimnisvolles, das für das Publikum attraktiv ist. Es weckt den Anreiz erkennen zu wollen, was dort niedergeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 126). Sina schreibt und verschickt häufiger Zettelchen während des Unterrichts, was vermuten lässt, dass ihr die erzeugte Aufmerksamkeit bei den Mitschülern durchaus bewusst ist. Sina nutzt die Momente aus, in denen die Lehrkraft der Klasse den Rücken zukehrt, was darauf hindeuten könnte, dass sie nicht von ihr entdeckt werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Als sie bemerkt, dass Adrian erneut einen Blick auf den Zettel werfen möchte, verbalisiert sie ihm klar, dass der Zettel nicht an ihn adressiert ist und sie ihm keine Einsicht gewähren möchte. Möglicherweise liegt es daran, dass die beiden Kinder unterschiedlichen Freundeskreisen angehören, die auch in Pausenzeiten häufig den Kontakt meiden. Es besteht kein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Sina und Adrian. Eine weitere mögliche Erklärung für Sinas Verhalten wäre, dass sie weiterhin das Interesse von Adrian auf sich und den Zettel richten möchte, welches eventuell verloren gehen würde, wenn er den Inhalt des Zettels kennen würde.

Dass sich das Geschehen auf der Hinterbühne abspielt wird erneut deutlich, als sich die Lehrkraft der Klasse zuwendet und Sina den Zettel in ihrer Hand versteckt. Die Tarnung, Verhüllung und das Verstecken sind feste Bestandteile der Zettelpraktik. Dadurch wird dem Verfasser sowie auch dem Publikum ein Beleg für die geheimnisvolle Bedeutung geliefert (vgl. ebd., S. 127).

Luca dreht sich neugierig wirkend zu den Akteuren um, was darauf hindeuten könnte, dass er inzwischen auf das Briefchenschreiben aufmerksam geworden ist. Zettelaktivitäten geben den Kindern häufig Hinweise über aktuelle Beziehungskonstellationen, wodurch auch das Interesse von Außenstehenden schnell geweckt wird (vgl. ebd., S. 125). Das nicht-involvierte Publikum erfüllt die Aufgabe, überhaupt erst Gemeinschaft inszenieren zu können (vgl. ebd., S. 127).

Neue Situationen entstehen dann, wenn Zuschauer zu Akteuren werden. Zu der Praktik des Zettelns gehört neben dem Schreiben bei längeren Wegen auch die Weitergabe durch die Mitschüler, die dadurch zu Boten werden (vgl. ebd., S. 125). Sie erhalten damit eine verantwortungsvolle Aufgabe, die für das Gelingen entscheidend ist. Die Weitergabe der Zettelchen ist für viele Kinder ein Zeichen dafür, dass sie Teil der Klassengemeinschaft sind. Durch die wiederholte Ausführung der gemeinsamen Handlungsgepflogenheiten bilden sich soziale Praktiken (vgl. ebd., S. 120).

Jasmins Reaktion lässt vermuten, dass sie sich nicht gerne an der Praktik des Zettelns beteiligen möchte (siehe Beobachtung: „Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“). Ihre Stimmlage lässt mutmaßen, dass sie genervt ist, dennoch gibt sie den Zettel weiter. Die Peers können sich der Aufforderung, einen Brief weiterzugeben, nicht entziehen. Kinder, die auf dem Postweg sitzen, müssen die Aufgabe annehmen und sich dem Risiko, entdeckt zu werden aussetzen. Dafür müssen eigene Aktivitäten möglicherweise unterbrochen werden. Postboten sind zwar durch die Weiterleitung aktiv eingebunden, gehören aber dennoch nicht der Gemeinschaft der Zettelnden an. Eine Verweigerung der Weitergabe könnte einen Imageschaden zur Folge haben (vgl. ebd., S. 127). Jasmins Verhalten deutet darauf hin, dass sie nicht aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Sie passt sich an die Verhaltenserwartungen ihrer Mitschülerin an, wodurch die Schülerrolle kurzzeitig in den Hintergrund gerät. Jasmin hält sich an die Spielregel, den Brief entweder während einer unruhigen Phase oder wenn die Lehrkraft abgelenkt ist, weiterzugeben (vgl. ebd., S. 130). Olaf, der das Zetteln von hinten zu verfolgen scheint, fordert sie dazu auf, den Zettel weiterzureichen. Olaf tritt als pflichtbewusster Bote auf, dem die peerkulturelle Praktik vermutlich wichtig erscheint. Er leitet den Zettel direkt weiter, ohne die Lehrkraft dabei im Blick zu halten. Es wird deutlich, dass für ihn die Zugehörigkeit zu der Klassengemeinschaft eine große Rolle spielen könnte und dem Unterrichtsgeschehen in dem Moment vorangestellt wird. Alternative Erklärungen für Olafs Verhalten könnten sein, dass er lediglich daran interessiert ist, den Empfänger ausfindig zu machen oder dass er Eindruck schinden möchte bei Sina. Weiterhin wäre es möglich, dass er das Unterrichtsgeschehen langweilig findet und er eine alternative Beschäftigung sucht.

Die aufkeimende Unruhe in der Klasse bleibt von der Lehrkraft nicht unbemerkt. Es wird deutlich, dass das Peergeschehen der Hinterbühne auf die Vorderbühne tritt und zu einer Umgestaltung des eigentlichen Unterrichts führt (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61). Die Lehrkraft verbalisiert ihre Verärgerung vor der Klasse. Sie gibt der peerkulturellen Rahmung jedoch zunächst nicht zu viel Aufmerksamkeit. So verliert sie die Anknüpfung an den Unterricht nicht. Sina sichert mit ihrem umschweifenden Blick möglicherweise ab, dass ihr Zettel nicht sichtbar für die Lehrkraft auf einem Tisch liegt. Außerdem könnte es sein, dass Sina verhindern möchte, dass ein Kind außerhalb ihrer Peergroup die Inhalte des Zettels liest und der Zettel bei der von ihr bestimmten Person ankommt. Jasmin scheint weiterhin auf die Zettelpraktik fokussiert zu sein. Sie wendet sich Sinas suchenden Blicken mit einem Schulterzucken zu. Die Geste soll womöglich zeigen, dass sich auch Jasmin nicht sicher ist, wer den Zettel in dem Moment aufbewahrt. Die von Sina hervorgebrachte Praktik des Zettelns tritt erneut auf die Vorderbühne, als die Lehrkraft Sina direkt auf ihr Verhalten anspricht. Sina zuckt zusammen, was darauf hindeuten könnte, dass sie sich ertappt fühlt. Dass sich Sina auf ihre Hände setzt und auf ihrem Stuhl zurücklehnt, soll der Lehrkraft möglicherweise zeigen, dass sie keiner außerunterrichtlichen Tätigkeit nachgeht und sie aufnahmebereit für die Unterrichtsinhalte ist.

Auch Mona wird in die Weitergabe des Zettels eingebunden. Ihre Reaktion lässt vermuten, dass für sie die Schülerrolle während des Unterrichts oberste Priorität hat und sie sich regelkonform verhalten möchte (siehe Beobachtung: „Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe.“). Mona stellt eine Frage zu unterrichtlichen Themen, was verdeutlicht, dass sie dem Unterrichtsgeschehen folgt. „Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox.“ Die Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass sie den Ausschluss aus der Gemeinschaft verhindern möchte. Lennox wird durch seinen Platz hinten in der Ecke selten in die soziale Praktik des Zettelns eingebunden. Er schaut zunächst ratlos wirkend auf den Zettel. Nina, die als Empfängerin des Briefes auftritt, hält sich an das Gebot, den Zettel beim Öffnen und Lesen vor dem Lehrer zu verstecken (vgl. Bennewitz 2009, S. 130). Sie hält ihn in der verschlossenen Hand. Als der Zettel dennoch von der Lehrkraft in ihrer Hand bemerkt wird, wird die Interaktion auf Peerebene abgebrochen. Nina kommt der Aufforderung und den Erwartungen der Lehrkraft vermutlich mit dem Blick auf ihre Verpflichtungen als Schülerin nach und packt den Zettel weg. Alle zuvor beteiligten Schüler richten ihren Blick nach vorne zu der Lehrkraft, sodass ein Bruch in der Peerinteraktion entsteht. Es wird der Eindruck erweckt, dass sich alle Akteure fortan auf ihre Schülerrolle zu fokussieren versuchen.

Situation 2

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Die Tische sind weiterhin wie in der ersten Beobachtung angeordnet. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Es ist der Beginn der vierten Unterrichtsstunde. Zuvor fand eine Religionsstunde bei einer anderen Lehrkraft in dem gleichen Klassenraum statt. In der Übergangssituation tauschten sich die beiden Lehrkräfte für ca. zwei Minuten über einen anstehenden Gottesdienst aus. In dieser Zeit verließen einige Schüler ihren Sitzplatz, um mit anderen Mitschülern ins Gespräch zu kommen. Zwei Kinder suchten die Toilette auf und betreten nun kichernd den Raum. Es ist 10:32 Uhr als die Religionslehrkraft den Klassenraum verlässt.

Dichte Beschreibung

Die Lehrkraft schließt die Tür, was nur von wenigen Kindern gesehen wird. Sie stellt sich vor die Tafel und schaut sich in der Klasse um. Einige Kinder laufen noch durch den Raum und unterhalten sich mit ihren Mitschülern. Tobias sitzt bereits sehr ruhig mit aufrechter Körperhaltung auf seinem Platz. Lisa holt Süßigkeiten aus ihrer Tasche und legt sie in ihre Mappe. Leander und Ina stellen ihre Unterhaltung ein. Leander legt seine Hände auf dem Tisch ab. Ina hebt den rechten Arm und macht mit ihren Fingern das „Leisefuchszeichen“, wobei der kleine Finger und der Zeigefinger in die Höhe zeigen, die anderen drei Finger werden leicht gegeneinandergedrückt. Tobias schaut in Inas Richtung und hebt ebenfalls seinen rechten Arm und macht das Zeichen. Daraufhin folgen auch Elias, Julia und Nina. Olaf und Mona hören auf zu flüstern, Anton und Susanne nehmen ihre Plätze ein. Die Lehrkraft schaut in Inas Richtung und sagt kopfnickend: „Danke Ina und Tobias.“ Mika und Leander drehen sich in Inas Richtung und machen ebenfalls das Zeichen. In der gesamten Klasse stellen sich die Gespräche ein. Es ist inzwischen 10:34 Uhr. Die Lehrkraft sagt mit erhobener Stimme: „So, das hat jetzt aber lange gedauert.“ Tobias nimmt seinen Arm herunter, die anderen Kinder ziehen damit nach. Ina nimmt erst etwa fünf Sekunden später den Arm herunter. Sie blickt dabei die Lehrkraft an.

Die Lehrkraft leitet zu dem Englischspiel „lebendiges Memory“ über. Julia wackelt mit ihrem Arm in der Luft und fragt, ob sie das Spiel erklären darf. Martin und Maja drehen sich zu ihr um während sie das Spiel erklärt. Julia erklärt die Spielregeln mit lauter Stimme, gestikuliert dabei unterstützend mit ihren Händen und schaut dabei abwechselnd zu Lina und der Lehrkraft. Im Anschluss wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus (Lina und Julius), die in der ersten Runde gegeneinander lebendiges Memory spielen dürfen. Die Auswahl wird von einigen Kindern mit einem Stöhnen kommentiert. Julius stemmt seine Hände in die Hüften und ruft zu Mika gewandt: „Ich gewinne bestimmt.“ Lina und Julius verlassen für etwa sieben Minuten den Klassenraum. Die Lehrkraft fordert dazu auf, dass sich immer zwei Partner zusammen einen englischen Satz zum Thema „Körper“ überlegen sollen. Manche Kinder bleiben auf ihren Plätzen sitzen und schauen sich zu ihren Mitschülern um. Mona ruft Nina zu, ob sie sich einen Satz zusammen ausdenken wollen. Andere Kinder springen direkt von ihrem Stuhl und gehen gezielt auf ein bestimmtes Kind zu. Melina geht auf Susanne zu, tippt dieser auf die Schulter und fragt, ob sie zusammen ein Paar bilden wollen. Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte. Es wird unruhiger in der Klasse, viele Kinder laufen durcheinander. Manche Kinder finden keinen Partner und wenden sich an die Lehrkraft.

Lisa sitzt immer noch auf ihrem Platz. Ich vermute, dass sie nicht weiß, welches Kind sie ansprechen soll. Die Lehrkraft kündigt mit lauter Stimme an, dass sich die Kinder, die keinen Partner gefunden haben, vorne vor der Tafel versammeln sollen. Lisa erhebt sich und geht mit langsamen Schritten zu der Tafel, auch Melina, Luca und Lennox finden sich vorne ein. Die Lehrkraft teilt die letzten vier Kinder in zwei Zweierteams ein. Es ist 10:40 Uhr und alle Kinder sind dabei, sich mit ihren Partnern einen Satz zu überlegen. Manche Kinder fordern Hilfestellung von der Lehrkraft ein, andere schreiben ihren Satz auf ein Blatt Papier. Möglicherweise wollen sie sich damit vergewissern, dass sie ihren Satz während des Spiels nicht vergessen. Um 10:43 Uhr finden sich alle Schüler auf ihren Plätzen ein.

Lina und Julius betreten schnellen Schrittes den Raum und platzieren sich vorne vor der Tafel. Julius tritt im Stehen abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß auf den Boden, er verlagert dabei sein Gleichgewicht hin und her. Außerdem verschränkt er seine Arme vor dem Oberkörper. Die Lehrkraft legt eine Strichliste an, mit der der Punktestand für beide Kinder dokumentiert wird. Die Lehrkraft sagt: „Julius darf beginnen.“ Dieser fragt leise mit dem Kopf schiefgelegt: „Was muss ich denn noch mal machen?“ Benedikt ruft laut: „Oh Julius, das haben wir doch schon einmal gespielt!“ Die Lehrkraft schaut kurz zu Benedikt, danach erinnert sie Julius in Kurzform an die normalen Memoryspielregeln. Julius sagt: „Achja, jetzt weiß ich es wieder!“ Er schaut sich in der Klasse um. Mika wackelt unter dem Tisch mit den Füßen. Anton schaut nach hinten zu seinem Spielpartner und nickt diesem zu. Julius folgt dem Blick und wählt Anton aus, welcher dann seinen Satz vor der Klasse vorträgt. Anton beißt sich auf die Unterlippe. Er muss seinen Satz zweimal von vorne beginnen, um ihn vollständig richtig aufzusagen. Im Anschluss wählt Julius Martin aus, der ebenfalls seinen Satz vorträgt. Es handelt sich dabei um den gleichen Satz. Die beiden Spielpartner müssen sich nun auf ihren Stuhl setzen und können nicht mehr am Spiel teilnehmen. Julius ruft: „Wusste ich es doch, dass ihr zusammen macht!“ Die Lehrkraft fügt den Punkt in der Liste hinzu, was von einigen Kindern in der Klasse mit einem Jubelruf kommentiert wird. Julius setzt ein lächelndes Gesicht auf, nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein und stemmt seine Arme dabei seitlich gegen seine Hüfte. Die Lehrkraft gibt den Schülern den Tipp, nicht immer nur Freunde als Spielpartner auszuwählen, da diese Paare sonst zu schnell von den Spielern vorne aufgedeckt werden. Im Anschluss ist Lina an der Reihe. Sie wählt Benedikt und Sina aus. Benedikt schaut in die Luft und sagt: „Oh, jetzt habe ich den Satz wieder vergessen.“ Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn und sagt im Flüsterton kaum hörbar: „Ist der dumm.“ Benedikt greift nach einem Zettel in seiner Hosentasche, holt ihn hervor und liest langsam und leise seinen Satz vor. Lina wählt außerdem Sina aus. Sina trägt ihren Satz laut und deutlich vor. Da sich der Satz von dem vorherigen unterscheidet, erhält Lina keinen Punkt. Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ Sein Zwischenruf bleibt von der Lehrkraft und den Mitschülern unkommentiert. Lina nimmt keinen Blickkontakt zu Mika auf. Sie dreht sich ein kleines Stück und wendet sich dabei verstärkt der rechten Klassenhälfte zu. Julius erhält erneut die Wortführung.

Analytische Dimensionierung

Die Beobachtung lässt vermuten, dass Ina die Unruhe im Klassenzimmer sowie die Erwartungshaltung der Lehrkraft sieht. Ina macht das Leisefuchszeichen, was in der Klasse häufig eingesetzt wird, damit Ruhe im Raum einkehrt. Es handelt sich hierbei um ein non- verbales Signal, welches normalerweise von der Lehrkraft ausgehend bei Störungen oder um Aufmerksamkeit zu erzeugen genutzt wird (vgl. Niermann 2017, S. 137). Es könnte sein, dass Ina, die immer wieder als engagierte Schülerin auftritt, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Lehrkraft sucht. Julia und Nina blicken in Inas Richtung und nehmen dann ebenfalls wortlos die Leisefuchshaltung ein. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Reaktion ihrer Peers durch Ina hervorgerufen wird. Die beiden Mädchen stellen ihre Gespräche dabei ein. Die Nachahmung durch die Peers könnte Ina zeigen, dass sie sie unterstützen. Die Reaktion könnte außerdem als eine indirekte Wertschätzung und Akzeptanz ihrer Position innerhalb der Gruppe gedeutet werden.

Auch Tobias, der ein sehr ruhiger und zurückhaltender Schüler ist, welcher sich selten am unterrichtlichen Geschehen beteiligt, greift die von Ina gezeigte Fingerhaltung auf. Er steht in keinem freundschaftlichen Verhältnis zu Ina. Daher liegt die Vermutung nahe, dass er damit mehr auf Anerkennung durch die Lehrkraft abzielt. Es könnte allerdings auch sein, dass Tobias Ina als Person schätzt und er deshalb die gleiche Haltung einnimmt. Tobias löst eine Reaktion innerhalb seiner eigenen Peergruppe aus. Elias, sein enger Freund und Sitznachbar, betrachtet Tobias Fingerhaltung und nimmt diese ebenfalls ein. Andere Peers stellen ihre Unterhaltung ein. Das von Ina ausgehende Leisefuchszeichen verdeutlicht zum einen Macht und Einfluss der eigenen Peergruppe während des Unterrichts, zum anderen wird die große Bedeutung von bereits eingeführten Ritualen und Zeichen deutlich. In dieser Situation findet die Peerinteraktion deutlich sichtbar auf der Vorderbühne statt (vgl. Willi- Wagner 2018, S. 62f.). Inas durchgeführte Handlung erzeugt bei einigen Mitschülern sowie der Lehrkraft Aufsehen, das durch Blicke und einen kurzen Dank durch die Lehrkraft zum Ausdruck gebracht wird.

Für das anschließende Spiel wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus, die den Klassenraum für kurze Zeit verlassen müssen. In der Zeit sollen sich Kinder zu Paaren zusammenfinden. Es ist deutlich erkennbar, dass sich viele Kinder direkt in die Richtung ihres guten Freundes bewegen. Auch hier spiegelt sich Peerverhalten deutlich wider. Besonders Mona sticht dabei durch ihren verbalen Zuruf an Nina gerichtet heraus. Melina, die keiner Peergroup innerhalb der Klasse angehörig ist, wird sichtbar von Susanne zurückgewiesen. Diese entscheidet sich dafür, mit einer Freundin zusammenarbeiten (siehe Beobachtung: „Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte“). Thiel (vgl. 2016, S. 45) hebt hervor, dass Ab- und Ausgrenzungsprozesse im Unterricht nicht nur Einfluss auf das Klassenklima nehmen, sondern Folgen für die kognitiven und affektiven Lernerträge sowie für das Verhalten schlecht integrierter Schüler entstehen. Durch die unzureichende Integration, die häufig als mangelnde Akzeptanz verspürt wird, können Lern- und Verhaltensprobleme für die ausgegrenzten Schüler entstehen (vgl. ebd., S. 45f.). Auch Lisa bleibt zunächst auf ihrem Platz sitzen und umgeht die Partnersuche. Für die beiden Mädchen wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, wenn die Paarbildung von der Lehrkraft zugewiesen worden wäre. In Zweiergruppen herrscht eine intimere Arbeitsbeziehung als in einer größeren Gruppe, welche wiederum eine gewisse Öffentlichkeit repräsentiert. Die Aufnahme in eine größere Arbeitsgruppe ist selten an eine Zustimmung durch alle Mitglieder gebunden, wohingegen die Bildung einer Partnerschaft die beiderseitige Zustimmung voraussetzt (vgl. Breidenstein 2006, S. 160f.).

Julius macht durch sein abwechselndes Auftreten mit dem rechten und linken Fuß einen nervösen Eindruck als er sich vorne vor der Klasse platziert. Er erfragt leise die Spielregeln, obwohl lebendiges Memory bereits mehrmals in unterschiedlichen Fächern und Kontexten zum Einsatz kam. Den Bereich der Tafel vorne einzunehmen kostet viele Schüler Überwindung, da man den „öffentlichen Raum“ betritt, an dem man von allen Schülern fokussiert wird. Eine Besonderheit besteht darin, dass es vorne keine Sitzplätze gibt, sondern dass man im Stehen den Blicken der Mitschüler ungeschützt ausgesetzt ist. Es wird dort für kurze Zeit die Lehrerrolle übernommen (vgl. Breidenstein 2006, S. 108). Wer vorne vor der Klasse steht „[…] wird potentiell zum Gegenstand von Kommentierung und zur Quelle von Amüsement“ (ebd., S. 109). Dies zeigt sich auch in der Beobachtung, als die Unwissenheit von Julius durch Benedikt kommentiert wird. Mit seiner Aussage beschädigt Benedikt für kurze Zeit das öffentliche Image von Julius (vgl. ebd., S. 110). Die vorne stehenden Kinder werden besonders durch die eigenen Freunde mit Blicken fokussiert. Den Platz der Lehrkraft vorne einzunehmen kann Chancen mit sich bringen, da die Kinder die Möglichkeit erhalten, ihr Können und Wissen vor der Klasse unter Beweis zu stellen. Möglicherweise wird den entsprechenden Kindern Anerkennung und Wertschätzung für ihre Leistung entgegengebracht (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Vor Beginn des Spiels legt die Lehrkraft für alle sichtbar an der Tafel eine Strichliste an, in der die Punkte der beiden Kinder festgehalten werden. Möglicherweise werden dadurch der Konkurrenzkampf der Freundeskreise sowie der Anreiz, als für alle Kinder sichtbarer Gewinner vor der Gruppe auftreten zu können, verstärkt. Auch wenn offiziell nur die beiden vorne im Fokus stehenden Kinder gegeneinander antreten, kristallisiert sich schnell ein Wettkampf der beiden Peergruppen der Klasse heraus. Dies macht sich dadurch bemerkbar, dass die engsten Freunde den jeweiligen Freund anfeuern und jubeln, sobald der eigene Freund einen Punkt erzielt hat. Auch Thiel betont, dass nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Ingroup) für die Kinder bedeutsam ist, sondern dass gleichzeitig auch immer eine Abgrenzung von anderen Gruppen (Outgroups) stattfindet. Diese sei ebenfalls wichtig für die Entwicklung und Stabilisierung der sozialen Identität. Durch die Jubelrufe erfährt Julius Anerkennung von seinen Peers (vgl. Thiel 2016, S. 45f.). Vermutlich wird ein Gefühl des Stolzes hervorgerufen, was dadurch sichtbar wird, dass Julius ein lächelndes Gesicht aufsetzt sowie eine aufrechte Körperhaltung einnimmt (siehe Beobachtung).

Es liegt die Vermutung nahe, dass der vor Spielbeginn geäußerte herabsetzende Kommentar von Benedikt an Julius gerichtet dazu führt, dass Julius die Vergesslichkeit von Benedikt ebenfalls für alle Kinder sichtbar mit einer Gestik unterstreicht (s.o. […] „Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn […]“). Möglicherweise erhofft sich Julius, dass seine eigene Beschämung vor der Klasse so in Vergessenheit gerät und sein eigenes Image wieder aufgewertet wird.

Die Zwischenrufe von Mika an Lina gerichtet stellen eine Zurückweisung dar, wodurch sich Mika gleichzeitig von der anderen Peergruppe abgrenzt (Outgroups). Thiel führt an, dass eine ausbleibende Anerkennung oder Zurückweisung beschämend wirken kann (vgl. ebd., S. 45f.). Es ist möglich, dass Lina deshalb eine von Mika wegweisende Position einnimmt. Es könnte gleichzeitig ein nonverbales Zeichen für die Inakzeptanz der Aussage „Die Jungs sind eh besser“ sein.

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Peerverhalten während des Unterrichts sowohl auf der Vorder- als auch auf der Hinterbühne zeigt. Der Einfluss der eigenen Peergroup ist nicht nur in Pausenzeiten besonders ausgeprägt, sondern wird die Rolle als Peer auch in den Unterrichtsstunden häufig der Schülerrolle vorangestellt. Dabei bleiben einige Verhaltensweisen und Interaktionen der Kommunikation von Lehrkräften unentdeckt. Dennoch können diese den Unterricht maßgeblich beeinflussen und verändern, da sich Schüler schnell durch die verschiedenen Nebenshowplätze ablenken lassen und häufig auch eine Mitwirkung von Außenstehenden für das Gelingen der Interaktion erforderlich ist (vgl. Bennewitz 2009, S. 123ff.). Aus Sicht des Unterrichts handelt es sich bei den Peertätigkeiten um Hinterbühnen oder Nebentätigkeiten, für Schüler hingegen „[…] geht es um die hohe Kunst der Gleichzeitigkeit und eine ausgefeilte Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Breidenstein 2006, S. 121). Die divergierenden Erwartungen an die Schüler- und die Peerrolle verlangen einen ständigen Balanceakt, dessen Austarierung individuell stattfindet. Die Schwerpunkte der Aufmerksamkeit verlagern sich permanent. Es erfolgt eine Suche nach interessant erscheinenden Ereignissen, sodass das frontale Unterrichtsgeschehen nur einen möglichen Punkt der Fokussierung darstellt (vgl. ebd., S. 121f.). Dem laufenden Unterricht wird häufig ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet, um den Faden nicht zu verlieren und anschlussfähig zu bleiben. Die Verweildauer der Aufmerksamkeit hängt zum einen von der Attraktivität des aktuellen Unterrichtsgeschehens ab. Zum anderen ist die Anziehungskraft der konkurrierenden Nebentätigkeit entscheidet. Auch die Unterhaltung mit dem Sitznachbarn oder das Zetteln können von Leerlauf und Langeweile geprägt sein und sind nicht immer per se spannend. Nebentätigkeiten sind oftmals so geschickt in den Ablauf integriert, dass sie von der Lehrkraft nicht als Störung wahrgenommen werden (vgl. ebd., S. 121f.).

Die in der ethnographischen Beobachtung vernommene Praktik des Zettelns läuft vermutlich mit zunehmender Klassenstufe immer ritualisierter ab, sodass sie dann von vielen Lehrkräften nicht mehr bemerkt wird. Die Schüler wachsen in ihre Rolle als Boten hinein und verhalten sich deshalb wahrscheinlich immer weniger auffällig. In der Beobachtung wurde deutlich, dass einzelne Schüler die Botenrolle noch nicht richtig verinnerlicht hatten, sodass Störungen im Ablauf aufkamen (siehe beispielsweise die Reaktionen von Lennox und Jasmin). Ich vermute, dass sich auch in dieser Klasse die Praktik des Zettelns immer weiter festigen wird, sodass es auch für viele Schüler zunehmend leichter werden könnte, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die verschiedenen Showplätze zu richten.

Die Interaktion auf Peerebene kann positive Auswirkungen auf die einzelnen Schüler haben, wenn diese Anerkennung und Wertschätzung durch die eigenen Peers erfahren. Dadurch wird gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe gestärkt. Dennoch kann die Peerinteraktion auch negative Folgen für das Selbstwertgefühl einzelner Schüler haben, sobald Ausgrenzungserfahrungen gemacht werden oder eine Bloßstellung vor der Klasse stattfindet (siehe beispielsweise Beschämung von Lina in der Beobachtung: Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ ) (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Insgesamt ist erkennbar, dass sich Peerverhalten an ganz unterschiedlichen Stellen im Unterricht widerspiegeln kann. Lehrkräften sollte dieser Fakt stets bewusst sein. Sie sollten Peerverhalten nicht grundsätzlich zu unterbinden versuchen, da der Lernort Schule ein grundlegender Ort für Peerkontakte ist und viele Schüler nur deshalb ein positives Bild von Schule entwickeln können (vgl. Zschach 2010, S. 105f.). Es ist wichtig, Zeiträume für gemeinschaftsstärkende Aktivitäten in die Unterrichtsplanung einzubauen, damit sich auch Einzelgänger dem Klassengefüge zugehörig fühlen und Ausgrenzung entgegengewirkt werden kann.

Für die weitere Forschung wäre es aus meiner Sicht interessant, Peerverhalten nicht nur während des Unterrichts, sondern auch während der Pausenzeiten zu beobachten. So würde ein eher auf der Hinterbühne stattfindendes Peergeschehen sichtbar und es könnten Vergleiche angestellt werden. Ein weiterer aufschlussreicher Forschungsansatz könnte sich ergeben, wenn Peerverhalten während des Unterrichts in verschiedenen Klassenstufen betrachtet würde. Da viele Peerinteraktionen mit zunehmendem Alter ritualisierter ablaufen und sich die einzelnen Peergruppen in ihren Konstellationen immer mehr festigen, wäre es spannend, Vergleiche zwischen den einzelnen Altersgruppen anzustellen. Außerdem verändert sich bei vielen Schülern vermutlich je nach Alter die Verlagerung der Aufmerksamkeit mehr auf die Peer- oder die Schülerrolle, weshalb der Vergleich zwischen den Altersgruppen sicherlich aufschlussreiche Ergebnisse liefern würde.

Literatur

  • Bennewitz, H. (2009): Zeit zu Zetteln! – Eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur. In H. de Boer & H. Deckert-Peaceman (Hrsg.): Kinder in der Schule: Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung (1. Aufl., S. 119-136). Wiesbaden: VS Verlag.
  • Breidenstein, G. (2012): Ethnografisches Beobachten. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen (S. 27-44). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht – Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Lindner, D. & Rosenberger, K. (2019): Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. Journal für LehrerInnenbildung, 19(4), S. 62-70. Klinkhardt.
  • Niermann, A. (2017): Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Otto, A. (2015): Positive Peerkultur aus Schülersicht – Herausforderungen (sonder-) pädagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
  • Thiel, F. (2016): Interaktion im Unterricht – Ordnungsmechanismen und Störungsdynamiken. Opladen & Toronto: Budrich.
  • Wiesemann, J. (2011): Ethnographische Forschung im Kontext der Schule. In H.-U. Grunder; K. Kansteiner-Schänzlin & H. Moser (Hrsg.): Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer (S. 167-185). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-62). Zürich: LCH.
  • Zschach, M.; Zitzke, C. & Schirner, M. (2010): Schule als Kontext und Thema von Freundschaftsgruppen in einer Längsschnittperspektive. In H.-H. Krüger; S.-M. Köhler; M. Zschach (Hrsg.): Teenies und ihre Peers – Freundschaftsgruppen, Bildungsverläufe und soziale Ungleichheit. Opladen & Farmington Hills: Budrich.
 
 
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